Überblick
Das Oberrheinische Tiefland, etwa 300 Kilometer lang und rund 30 bis 40 Kilometer breit, wird beiderseits von Mittelgebirgen flankiert. Hier schiebt sich der Rhein mit geringem Gefälle über einen Talboden aus Sand und Kies. Oberhalb von Straßburg befand sich eine Furkationszone, in der sich der mächtige Strom in ein Geflecht aus zahllosen Seiten- und Nebenarmen gabelte, wodurch sein Hauptbett kaum noch auszumachen war. Durch ungezählte Hochwasser und den Wechsel der Jahreszeiten hatte der Rhein im Laufe von Jahrtausenden ein regelrechtes Labyrinth von Wasserstraßen erschaffen, in dem es über 1500 kleinere und größere Inseln gab. Unterhalb von Straßburg ging dieser Abschnitt in die Mäanderzone über, in welcher sich der Rhein zunehmend als ein einziger Strom, aber in zahllosen Schlingen und Schleifen, durch die Rheinaue wand, wobei er durch seine Dynamik beständig neue Nebenarme schuf oder aber ehemalige Altwasser als Hauptbett zurückeroberte. Einen Ausschnitt dieses Rheinabschnitts zeigt die Karte.
Umgestaltung der Flusslandschaft
Für die Dörfer am Fluss war der Rhein mit seinen Auen zum einen Lebensgrundlage, zum anderen eine ständige Bedrohung, weshalb die Anwohner seit dem Mittelalter nach Mitteln und Wegen suchten, sich vor seinen drohenden Wassern zu schützen. Ein erster künstlicher Durchstich zur Umleitung des Flussbetts erfolgte im späten 14. Jahrhundert. Gleichzeitig wurden beiderseits des Flusses zum Schutz der Felder und Siedlungen erste Deichbauten errichtet.
Zum „Bändiger des wilden Rheins“ wurde erst der 1770 geborene Georg Friedrich Tulla, ein Ingenieur aus Baden, der einige Jahre lang praktische Erfahrungen bei Wasserbauprojekten im In- und Ausland gesammelt hatte. Grundsatz war, die Hochwassergefahr durch Erhöhung der Fließgeschwindigkeit und Absenkung des Wasserspiegels zu verringern. Ein künstliches Bett sollte die Länge des Stroms verkürzen und die Kultivierung von Sumpfland ermöglichen.
Erst mit der Vereinbarung von fünf Durchstichen zwischen Baden und Bayern 1817, dem in den folgenden Jahren weitere Abkommen zwischen deutschen Ländern und mit Frankreich folgten, konnte das Projekt in Angriff genommen werden.
In der Folgezeit waren bis zum Abschluss der Bauarbeiten 1870 zu jedem Zeitpunkt mindestens 3000 Arbeiter im Einsatz, vor allem um Durchstiche (s. Karte) und parallel zum Rhein neue, durchgängige Hauptdeiche anzulegen. Die Karte 1850 zeigt das Ergebnis dieser Arbeiten oberhalb von Mannheim.
Das Primärziel des Tulla-Projekts, der Schutz der Städte und Dörfer, wurde erreicht. Weitere Errungenschaften waren der Gewinn fruchtbaren Kulturlandes, die Verbesserung der Schifffahrtswege und nicht zuletzt die Eindämmung von Malaria, Typhus und Ruhr.
Die Kehrseite war eine unerwartete Absenkung des Grundwasserspiegels, wodurch Bäume und Pflanzen verdorrten. Der Fortschritt hatte auch wirtschaftliche und soziale Konsequenzen. Die Goldwäscherei, die Vogelstellerei, die Schilfrohrschneiderei und die Fischerei brachen ein. Das Verschwinden wichtiger Fischarten wurde durch Umweltverschmutzung und spätere Baumaßnahmen zweifellos verstärkt, aber viele Ruhe- und Laichplätze wurden bereits im 19. Jahrhundert unwiderruflich zerstört.
Eine Folge der erhöhten Fließgeschwindigkeit und der Eindämmung der Überflutungsflächen war eine verstärkte Hochwassergefahr am Mittel- und Niederrhein. Um diese zu verringern, wurden neue Rückhaltebecken geplant und eingerichtet (s. 61.7). Sie sollen bei Hochwasser geflutet werden, um den Scheitel der Hochwasserwelle abzusenken. Eine Erweiterung der Rückhalteräume würde diesen Effekt noch verstärken. Die Einrichtung von Rückhaltebecken für Hochwasser setzt allerdings voraus, dass diese Gebiete nicht dauerhaft genutzt oder gar besiedelt werden.
Ein Vergleich 1850 – heute zeigt, dass die mit dem Tulla-Projekt verbundenen Umbauten des Rheins bis heute Bestand haben. Der Fluss hat heute den Charakter eines Kanals (s. 61.5). Vielerorts sind Kiesgruben in der Flussaue hinzugekommen, außerdem wurde der Rheinhauptdeich kontinuierlich verstäkt. Das Gebiet ist heute ungleich stärker besiedelt als 1850. Verkehrslinien durchschneiden die Flussaue. Gewerbegebiete, sogar Kernkraftwerke liegen unmittelbar am Fluss. Dies unterstreicht die Notwendigkeit des Hochwasserschutzes am Oberrhein.