Bratsk - Sozialistische Pionierstadt

Asien - Nord- und Zentralasien - Räume im Wandel
978-3-14-100800-5 | Seite 172 | Abb. 3| Maßstab 1 : 300000

Überblick

Die Karte zeigt die Stadt Bratsk, deren neun Stadtteile sich in einem Umkreis von bis zu 50 Kilometern um den Nordteil des Bratsker Stausees gruppieren. Bratsk ist eine Siedlungsinsel in der ansonsten nur sehr dünn besiedelten Taiga. Sie gilt als klassische Pionierstadt, weil sie unter schwierigsten naturräumlichen, infrastrukturellen und finanziellen Bedingungen gegründet wurde. Kristallisationspunkte der Siedlungsentwicklung sind das Wasserkraftwerk und die Industriebetriebe. Typische Züge einer sozialistischen Stadt lassen sich an engen Verbindungen zwischen den Wohnsiedlungen und jeweils einem bestimmenden Industriebetrieb und am planmäßigen Grundriss (sich zumeist rechtwinklig schneidende Straßen) erkennen.

Staumauer und Wasserkraftwerk

Das Bratsker Wasserkraftwerk war das erste Großprojekt der Sowjetunion in Sibirien in der Erschließungsphase der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Fluss Angara wurde von den sowjetischen Planern wegen seiner ausgeglichenen Wasserführung ausgewählt. Als Standort des Kraftwerks wurde die Paduner Enge bestimmt, wo die sonst in einem breiten Tal fließende Angara einen Gebirgsriegel in einem engen Durchbruchstal durchschneidet. Nach dreijährigen Rodungen und anderen Vorarbeiten wurde im Frühjahr 1957 mit dem Bau begonnen, unter dem Einsatz von 17 000 Arbeitskräften. Vor der Füllung des Stausees mussten 40 Millionen Kubikmeter Holz eingeschlagen und 264 Siedlungen mit insgesamt 114 000 Einwohnern verlegt werden (s. 172.2). 1961 lieferte das Kraftwerk den ersten Strom, 1966 wurde die Staumauer (1430 m lang, 125 m hoch) fertig gestellt. Mit einer Jahresleistung von 22,6 Milliarden Kilowattstunden wurde Bratsk das damals größte Wasserkraftwerk der Welt. Noch heute produziert es sehr preisgünstigen Strom.

Der Bratsker Stausee hat eine Fläche von 5450 Quadratkilometern, das ist etwa ein Sechstel des Baikalsees bzw. ein Drittel Schleswig-Holsteins. Heute ist der See ein wichtiger Verkehrsweg, auch wenn er Schiffen und Flößen wegen der strengen Winter nur 120 Tage im Jahr offensteht.

Nachfolgende Industrien

Einige Industrieentwicklungen standen in engem Zusammenhang mit dem Aufbau des Standorts Bratsk. So wurde Holz, das im Bereich des späteren Bratsker Stausees eingeschlagen wurde, zur Herstellung von Beton-Verschalungen und als Baumaterial für die ersten Siedlungen genutzt (s. Karte, Holzhäuser der Pionierzeit). Später entwickelte sich die Holzverarbeitung zu einem wichtigen wirtschaftlichen Standbein. Einschließlich der Forstwirtschaft sowie der Zellulose- und Papierindustrie waren Anfang der 1990er-Jahre 30 000 Arbeitskräfte in diesem Bereich tätig. Die Baustoffindustrie der Region stellte zunächst den für die Staumauer benötigten Beton her, später Betonfertigteile für den Siedlungsbau.

Aufgrund seiner großen Kapazitäten und des preisgünstigen Stroms wurde das Wasserkraftwerk zu einer wichtigen Basis des Industriestandorts Bratsk. Zeitweise nahm allein die Aluminiumindustrie zwei Drittel des vom Kraftwerk produzierten Stroms ab. Damit wurden jährlich bis zu 500 000 Tonnen Aluminium produziert. Daneben gab es in Bratsk eine Metall verarbeitende Industrie, dort wurden u. a. Heizkörper hergestellt.

Der Holzreichtum der Umgebung und das verfügbare Brauchwasser bildeten die Grundlage der Zellulose- und Papierindustrie mit Standorten am südlichen Ortsrand von Bratsk.

Siedlung und Bevölkerung zur Zeit der Sowjetunion

Die verschiedenen Stadtteile lehnten sich an die genannten Industriebetriebe an, woraus sich eine Zersplitterung der Stadt in Einzelsiedlungen ergab. Die Konzentration der Industrie auf die Kraftwerksregion und die etwa 40 Kilometer weiter südlich gelegenen, relativ ebenen Areale führte zur Großgliederung der Stadt in einen Nord- und einen Südbezirk.

Zentrum der Nordregion ist heute der Ortsteil „Energetik“, in dem – wie der Name sagt – ursprünglich vor allem die im Kraftwerk arbeitenden Menschen lebten. Zentrum des Südbezirkes ist der Ortsteil „Central‘nyj“, auch „Bratsk“ genannt. Beide Stadtteile wurden immer weiter ausgebaut und mit zentralen Funktionen ausgestattet. Das Kartenbild zeigt neben den Gebieten mit den typischen Hochhäusern in Fertigbauweise auch Gebiete mit Einfamilienhäusern, die von den Einwohnern selbst errichtet wurden – der private Wohnungsbau war eine Besonderheit in einer sozialistischen Stadt.

Die Bevölkerungszahl der 1957 gegründeten Stadt stieg bis 1991 auf 260 000 Menschen an. Da der Wohnungsbau mit diesem Wachstum nicht Schritt halten konnte, lebten zu diesem Zeitpunkt viele Einwohner noch immer in Wohnheimen. Um das für Pioniersiedlungen charakteristische Übergewicht an Männern zu kompensieren, wurden Arbeitsplätze insbesondere für Frauen geschaffen, etwa durch Gründung eines Bekleidungskombinats für rund 1000 Arbeitnehmerinnen.

Die Versorgung der rasch wachsenden Bevölkerung bereitete in der Abgeschiedenheit der Taiga gewisse Schwierigkeiten. Der örtliche Gemüseanbau mit Unterglaskulturen auf rund zehn Hektar Fläche konnte den Bedarf nur zu etwa 25 Prozent decken. Die Bevölkerung war daher weitgehend auf die Eigenversorgung durch die intensiv gartenbaulich genutzten Datschaflächen (jeweils 600 m2 groß) angewiesen. Private Überschussprodukte konnten auf dem zentralen Kolchosmarkt verkauft werden. Ein Geflügelbetrieb versorgte die Bevölkerung mit Eiern und Hühnerfleisch, ein Fischereibetrieb nutzte darüber hinaus den Fischbestand des Stausees.

Zur Gegenwart

Heute leben rund 246 000 Menschen in Bratsk (Stand 2010), rund sechs Prozent weniger als 1991. An der Wirtschaftsstruktur hat sich gegenüber der Phase vor der Transformation wenig geändert: Das Kraftwerk und die Aluminiumverhüttung sind nach wie vor bedeutende Betriebe. Auch die Zellulose- und Papierindustrie ist ein wichtiger Arbeitgeber. 2013 wurde eine neue Zellulosefabrik eröffnet, die von einem US-amerikanisch-russischen Gemeinschaftsunternehmen betrieben wird (Investitionsaufwand 725 Mio. Euro). Die russische Zellulose- und Papierindustrie, an der auch zahlreiche ausländische Unternehmen beteiligt sind, deckt gegenwärtig etwa den russischen Inlandsbedarf und verfügt über sehr gute Wachstumsaussichten.

Bis heute ist die Luft- und Wasserverschmutzung ein gravierendes Problem. Im Wasser des Stausees wurde Quecksilber gefunden, die Luftverschmutzung des Aluminiumwerks führt sogar zur Evakuierung von Einwohnern. Gegenwärtig gelten Bratsk und Umgebung als eine der am stärksten belasteten Regionen weltweit.

Schlagworte