Bern - Soziale Gliederung

Schweiz - Bern
978-3-14-100919-4 | Seite 44 | Abb. 2| Massstab 1 : 50000

Überblick

Die Atlaskarten zu Bern stellen bis auf eine kleine Fläche im Westen das gesamte Siedlungsgebiet der Gemeinde Bern dar. Die benachbarten Gemeinden (z. B. Muri, Köniz) gehören zur Agglomeration Bern; hohe Bevölkerungsdichte und intensive Pendlerverflechtung charakterisieren diese. In dieser Karte wird eine soziale Gliederung der Stadt Bern auf der Basis ihrer Stadtbezirke gezeigt, festgemacht an den Parametern der örtlichen Einwohnerzahl, der höchsten abgeschlossenen Ausbildung und des lokalen Ausländeranteils.Über das identisch ausgestaltete Verkehrsnetz und den gemeinsamen Kartenausschnitt und -massstab ist dieser Bern-Plan eng mit Karte 44.1 verbunden, welche die historische Stadtentwicklung der Bundesstadt zeigt.

Anzeichen sozialer Segregation

Der Anteil der ausländischen Bevölkerung an der Wohnbevölkerung wird für die 32 statistischen Bezirke ausgewiesen; diese sind je nach Anteil entsprechend eingefärbt. Die höchste abgeschlossene Ausbildung der über 25-Jährigen und die Einwohnerzahlen werden für die 6 Stadtteile ausgewiesen. Die entsprechenden Werte können aus den Kreissektorendiagrammen abgeleitet werden.
Der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung ist vor allem in den westlichen Quartieren der Stadt mit über 30 % hoch. Am niedrigsten ist ihr Anteil im Weissenstein-Quartier und in Teilen der Altstadt (unter 15 %). Den geringsten Wert weist der ländlich geprägte Stadtteil Oberbottigen ganz im Westen des Stadtgebiets auf; aus darstellungstechnischen Gründen erscheint dieses Siedlungsgebiet jedoch nicht auf der Karte. Die Quartiere Breitenrain, Lorraine, Länggasse und die Innenstadt lassen eine gute Durchmischung erwarten. Diese soziale Gliederung lässt sich unter anderem historisch, mit Fokus auf die städtebauliche und politische Entwicklung der Stadt, erklären (vgl. Hintergrundinformationen).
Ganz deutlich ist ein Unterschied in der Gesamteinwohnerzahl zwischen der Innenstadt und den übrigen Stadtteilen zu erkennen. Stadterweiterung einerseits und Verdrängung der Wohnfunktion durch den funktionalen Wandel der Innenstadt andererseits erklären den verhältnismässig kleinen Anteil an Wohnbevölkerung in der Innenstadt (untere und obere Altstadt). Am meisten Menschen leben im Westen der Stadt, z. B. in Bümpliz (Grossüberbauungen). Das Mattenhofquartier kann als positives Beispiel für Verdichtung und damit auch für die Schaffung von neuem Wohnraum, aber auch für die Erhaltung von Wohnraum neben der Ausdehnung von Cityfunktionen bewertet werden. Die citynahe Lage macht das Mattenhofquartier ebenso wie das Länggassquartier zu einem attraktiven Wohnquartier.
Die Karte zeigt sehr deutlich, dass es in Bern eine Segregation bezüglich der Ausbildung gibt. Der Anteil der über 25-Jährigen mit einer höheren Berufsausbildung oder einem Hochschul- respektive Fachhochschulabschluss (Tertiärstufe) ist in den westlichen Quartieren sehr viel geringer als beispielsweise im Mattenhofquartier oder im Kirchenfeld-/Schosshalde-Quartier. Parallel dazu ist der Anteil der Personen mit nur obligatorischer Schulausbildung (Sekundarstufe I) in Bümpliz/Oberbottigen im Vergleich mit den anderen Stadtteilen am höchsten. Nicht übersehen werden darf also, dass in der Schweiz soziale Herkunft und Bildungserfolg immer noch einen direkten Zusammenhang haben. Der Stellenwert der Schul- und Ausbildung ist in den letzten 50 Jahren
zwar gestiegen, doch haben Angehörige tieferer sozialer Schichten dadurch nicht automatisch mehr Bildung oder bessere Bildungschancen

Wirtschaftliche Hintergründe zur bernischen Sozialtopografie

Mitte des 19. Jahrhunderts begann auch für Bern die Zeit der Industrialisierung. Grosse bauliche Investitionen sowie der Ausbau der Eisenbahn liessen die Stadt flächenmässig wachsen. Industrialisierung und Eisenbahnbau bedeuteten aber auch einen Zuwachs an Arbeitsplätzen. Das, zusammen mit der zentralörtlichen Funktion, liess Bern zu einem Anziehungspunkt für das Umland und die ländliche Bevölkerung werden. War die Wirtschaft der Stadt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt von Handel und Kleingewerbe, entstanden mit der Industrialisierung neue Arbeitsplätze in Fabriken. Stark wuchsen das Bau- und Metallgewerbe und die Schokoladenindustrie sowie in der Anfangsphase auch die Textilindustrie. 1888 stellten Dienstboten sowie Beschäftigte im Handel, im Bank- und Versicherungswesen jeweils 17 % der Erwerbstätigen. Die Zahl der Beamten – weniger als 4 % der arbeitenden Bevölkerung – fiel dagegen damals noch kaum ins Gewicht. Wie überall in den hoch entwickelten Ländern ist die Bedeutung der Industrie in den letzten Jahrzehnten zugunsten des Dienstleistungssektors zurückgegangen.
1857 wurde Bern von Norden her aus Richtung Olten an das Bahnnetz angeschlossen; 1859 wurde die Verlängerung in Richtung Thun und 1862 nach Lausanne fertiggestellt. Die Anbindung ans schweizerische Eisenbahnnetz wurde durch den Bau der „Roten Brücke“ (1858) möglich. Die Rote Brücke, die mit einem Steg für Fuhrwerke und Fussgänger kombiniert war, führte die Eisenbahn von der Lorraine neu über die Aare in den oberen Bereich der Altstadt, was dieser eine neue Gewichtung brachte. Dieser Bereich wurde zum neuen Zentrum der Stadt. Der Eisenbahnbau zog auch die innerstädtische Verkehrserschliessung nach sich. Die Verbindung zwischen den Quartieren wurde sichergestellt: zuerst mit privaten Droschkenbetrieben, ab 1890 mit der ersten Tramlinie (Mattenhofquartier – Bärengraben). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann die Stadt mit dem Aufbau der Gas-, Hochdruckwasser- und Stromversorgung sowie dem Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Die Massenmotorisierung belastet ab 1950 zunehmend das städtische Strassennetz und stellt seither eine Herausforderung für die Stadtplanung dar. Strassenverläufe und -breite, Fussgängerzonen und verkehrsreduzierende Massnahmen zeugen von den vielen verschiedenen Interessen und Trends in der Planung hinsichtlich des motorisierten Individualverkehrs (z. B. Gestaltung des Bahnhofvorplatzes und des Bubenbergplatzes). Das historische Bern ist heute zum grössten Teil verkehrsberuhigt.

Beschleunigte soziale Segregation im Industriezeitalter

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verlief die Bevölkerungsentwicklung Berns gleichmässig langsam. Danach setzte bedingt durch ökonomische und politische Veränderung ein rasches Wachstum ein. 1910 lebten dreimal so viele Menschen in der Stadt wie 1850. Hauptgrund für diesen Anstieg waren Wanderungsgewinne. Die Stadt als attraktiver Wohn- und Arbeitsplatz lockte viele Menschen an. Anfänglich kamen sie, um in der Stadt als Dienstboten und im Verlauf des 19. Jahrhunderts im Gewerbe und in der Industrie zu arbeiten. Das Leben unter den Lauben – bis anhin gemächlich nach Berner Art – wurde lebhafter, die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt mussten sich, wie die Bevölkerung in anderen Grossstädten auch, mit negativen Folgen des raschen Bevölkerungswachstums auseinandersetzen: Der Wohnraum wurde zusehends knapper. Erst ab 1860 standen die Aussenquartiere nördlich der Aare als Wohnquartiere für die in der Innenstadt arbeitenden Zuwanderer zur Verfügung.
Das Phänomen der sozialen Segregation, das in allen Städten zu beobachten ist, zeigt sich auch in der spezifisch bernischen Sozialtopografie. Ab 1890 begann beispielsweise die Entvölkerung der Altstadt. Die wohlhabenden Einwohner konnten sich die besseren Wohnlagen in der Innenstadt aussuchen oder verliessen diese ganz. Bevorzugte Quartiere waren Stadtbach, Altenberg und Villette, später besonders das Kirchenfeld. Ärmere Bevölkerungsschichten mussten dort wohnen, wo sie es sich leisten konnten. Billiger Wohnraum war häufig nur in schattiger, feuchter und peripherer Lage zu finden. Es entstanden Arbeitersiedlungen am Nydeggstalden, in der Matte, in der Lorraine und in der Länggasse. Konjunktureinbrüche wie die grosse Depression nach 1873, von der sich Bern erst Jahre später erholte, trafen in erster Linie Arbeiter und Arbeiterinnen. Gemäss dem kantonalen Armengesetz von 1857 war die Stadt für Verarmte unterstützungspflichtig, dementsprechend strikt versuchte man den Zuzug und den Aufenthalt zu kontrollieren oder gar zu unterbinden. 1877 waren 8,3 % der Einwohner armengenössig. Um 1850 lebten in Bern 1 668 Ausländerinnen und Ausländer, die sechs Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Erst mit der Hochkonjunktur ab 1890 stieg die ausländische Wohnbevölkerung auf elf Prozent (1910). Im 20. Jahrhundert entwickelte sich die ausländische Zuwanderung in Bern parallel zur Wirtschaftslage: Die Zahl der Ausländerinnen und Ausländer erreichte vor dem Ersten Weltkrieg mit über 10 000 Personen ein erstes Maximum. Während der beiden Weltkriege und in der Zwischenkriegszeit ging ihr Anteil an der Einwohnerschaft bis auf drei Prozent im Jahre 1945 zurück. In der Blüte der Nachkriegszeit kamen Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Süden. Seit 1950 stellen Menschen aus Italien die grösste Gruppe unter der ausländischen Bevölkerung in Bern dar. Auch in der jüngsten Vergangenheit bestimmten Wirtschaftskrisen wie beispielsweise jene der 1970er-Jahre Zu- und Abwanderung. So mussten beispielsweise in den 1970er-Jahren über 4 700 Ausländerinnen und Ausländer die Stadt verlassen. Der Ausländeranteil der Bundesstadt näherte sich jenem der Schweiz erst gegen 1990 und erreichte im Jahr 2024 mit 25 % einen einstweiligen Höhepunkt.
Die politischen Umwälzungen von 1830/31 schufen die Voraussetzungen für das moderne Schulwesen: Die Kantonsverfassung von 1831 und die darauf basierenden Schulgesetze stellten die Primarschulen unter staatliche Aufsicht, schrieben die allgemeine Schulpflicht vor und verlangten von den Gemeinden die Bereitstellung der benötigen Schulräume. Mit der Hochschulgründung 1834 besuchten auch Berner Frauen die Universität als Hörerinnen. Doch die Wegbereiterinnen für das Frauenstudium waren Ausländerinnen: 1868 liess sich eine Frau aus Deutschland in Bern immatrikulieren, sie erschien jedoch nie. Damit war die Universität Bern nach Paris und Zürich die dritte Universität, die Frauen ein reguläres Studium ermöglichte. 1874/75 waren schon zehn Prozent aller in Bern Studierenden Frauen; die meisten davon kamen aus Russland, wo Frauen nicht zum Studium zugelassen waren. Die ersten Schweizerinnen immatrikulierten sich erst ab 1877 und ihre Zahl nahm nur langsam zu. Es erstaunt deshalb nur wenig, dass der Anteil der Studentinnen an der Gesamtzahl der Studierenden bis um die Mitte der 1950er Jahre lediglich bei zehn Prozent lag. Die meisten Frauen studierten an der medizinischen und an der philosophisch-historischen Fakultät. Ab den 1960er-Jahren verbesserten sich die gesellschaftlichen Voraussetzungen für Frauen, ein Studium zu beginnen. Damit stieg der Anteil der Studentinnen stetig an, und im Wintersemester 2002/03 waren an der Universität Bern erstmals mehr Frauen als Männer eingeschrieben (was seitdem so geblieben ist). Frauen haben von der Bildungsexpansion am meisten profitiert, vor allem durch die Erweiterung des Angebots.

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