Brasilien - Regionale Entwicklungsunterschiede

Brasilien - Lebensbedingungen
978-3-14-100900-2 | Seite 243 | Abb. 5| Maßstab 1 : 40000000

Überblick

Brasilien weist bezüglich seiner Bevölkerung ausgeprägte regionale Disparitäten auf, die sich in der Bevölkerungsdichte, Binnenwanderungen und den Lebensbedingungen ausdrücken und oftmals mit den jeweiligen regionalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verknüpft sind.

Besiedlung und Bevölkerungsdichten

Mit rund 214 Mio. Menschen (2022) ist Brasilien hinsichtlich seiner Bevölkerung das sechstgrößte Land der Erde nach China, Indien, den USA, Indonesien und Pakistan. Dennoch liegt die Bevölkerungsdichte nur bei 25 Einwohnern pro Quadratkilometer – einem Zehntel des deutschen Werts –, weshalb Brasilien noch immer in weiten Gebieten den Eindruck eines dünn besiedelten Landes erweckt. Tatsächlich bestehen innerhalb Brasiliens erhebliche Dichteunterschiede: Die Daten schwanken zwischen 3 Personen/km² im Bundesstaat Roraima und 399 Personen/km² im Bundesstaat Rio de Janeiro bzw. 539 Personen/km² im Bundesdistrikt Brasília.

Bei der räumlichen Verteilung der brasilianischen Bevölkerung gibt es ein auffälliges Muster: In der tropischen Regenwaldregion im Nordwesten, namentlich in den Bundesstaaten Acre, Amazonas, Roraima und Amapá, ist die Bevölkerungsdichte am niedrigsten, zu den städtischen Verdichtungsräumen an der südöstlichen Küste nimmt sie immer stärker zu (s. 242.4). Eine gewisse Ausnahme von dieser Regel macht der Bundesdistrikt (Distrito Federal do Brasil) rund um die Hauptstadt Brasília, der als der am dichtesten besiedelte Landesteil inselhaft im ansonsten nur dünn bevölkerten Bundesstaat Goiás (21 Personen/km²) liegt. An der Ostküste ist die Bevölkerungsdichte allerdings keineswegs einheitlich. Ein klarer Schwerpunkt liegt hier zum einen rund um Rio de Janeiro und die angrenzenden Bundestaaten Espírito Santo und São Paulo sowie zum anderen in der nordöstlichen Spitze des Landes zwischen Rio Grande do Norte und Alagoas bzw. Sergipe. Die zwischen diesen beiden Regionen liegenden Bundesstaaten Bahia und Minas Gerais sowie der Bundesstaat Rio Grande do Sul sind dagegen vergleichsweise dünn besiedelt.

Entwicklungsunterschiede und Binnenmigration

Zwischen 2010 und 2019 hat es, wie in den Jahren zuvor, innerhalb Brasiliens erhebliche Bevölkerungswanderungen gegeben, wobei sich die Wanderungsgewinne und -verluste über das Land verteilen, ohne ein eindeutiges großräumiges Muster zu ergeben – abgesehen von der Tatsache, dass die Wanderungsbewegungen im stärker besiedelten Osten aus naheliegenden Gründen deutlich höher sind als im dünn besiedelten Westen. Die stärksten Wanderungsbewegungen sind zwischen dem Nordosten und dem Südosten zu verzeichnen, mit etwas höheren Zahlen von Nordosten nach Südosten als umgekehrt. Als Hauptziele lassen sich darüber hinaus der Zentralwesten und Paraná ausmachen, hier jeweils mit deutlichen Wanderungsgewinnen für diese Landesteile.

Eine leichte Trendwende hat es im wirtschaftlich noch immer unterentwickelten Nordosten gegeben, der in den Jahren zuvor sehr starke Abwanderungsverluste hinnehmen musste, nun aber dank der Zuwanderungsgewinne von Rio Grande do Norte, Paraiba und Sergipe eine etwas ausgeglichenere Wanderungsbilanz vorweisen kann. Auffällig im Süden ist, dass die Bundesstaaten Rio de Janeiro und São Paulo Abwanderungsverluste registrieren. Die Zugewinne in der nordwestlichen Amazonasregion folgen im Wesentlichen einem langjährigen Trend.

Bevölkerungsbewegungen werden durch vielfältige Faktoren ausgelöst, wobei Unterschiede in den Lebensbedingungen, hier erfasst durch eine räumlich differenzierte Darstellung des HDI (s. 288.1), und wirtschaftliche Gegensätze eine ausschlaggebende Rolle spielen. Brasilien ist nach wie vor von starken sozialen und regionalen Gegensätzen geprägt. Der Südosten verfügt – nicht zuletzt dank der starken Einwanderung aus Europa – über eine moderne, leistungsfähige Infrastruktur in den Bereichen Transportwesen, Banken und Handel, die Lebensbedingungen sind hier nach dem HDI-Index mindestens durchschnittlich, in weiten Gebieten sogar gut. Die negative Wanderungsbilanz der Metropolen Rio de Janeiro und São Paulo kann zumindest teilweise mit den schwierigen Lebensbedingungen für arme Zuwanderer erklärt werden (s. Favelas, 243.7) vor allem mit der erfolgreichen Armutsbekämpfung der Regierung (s. u.) und der zunehmend besseren wirtschaftlichen Entwicklung außerhalb des Südostens, sodass wichtige Abwanderungsmotive wegfallen.

Der Norden liegt gegenüber dem Südosten wirtschaftlich deutlich zurück, auch die Lebensbedingungen sind hier im Durchschnitt wesentlich schlechter, dafür weist er in jüngster Zeit die höchsten Wachstumsraten auf. Hintergrund solcher – scheinbar widersprüchlicher – Strukturen und Wanderungsbewegungen ist die Erschließung Amazoniens, insbesondere die Agrarkolonisation (s. 249.5, 249.6, 281.4).

Lebensbedingungen

Die Lebensbedingungen der brasilianischen Bevölkerung haben sich zwischen 1991 und 2019 in der Summe stark verbessert (s. Grafik in der Karte), wenn auch im letzten Jahrzehnt in geringerem Ausmaß als in den beiden Jahrzehnten zuvor. Auch die Armutszahlen konnten signifikant verringert werden. Zu verdanken ist dies unter anderem umfangreichen Investitionen im Energie-, Wohnungsbau-, Transport- und Stadtentwicklungssektor, die im Rahmen des Programmes zur Beschleunigung des Wachstums unter den Regierungen von Luiz Inácio Lula da Silva (2003–2010) und seiner Amtsnachfolgerin Dilma Rousseff (2011–2016) geplant und in Angriff genommen wurden. Durch die dadurch erzielte Reduzierung des Anteils der extrem armen Menschen konnte Brasilien ein zentrales Millenniums-Entwicklungsziel, die Senkung der Armut, vorzeitig erreichen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag 2013 mit 11 300 US-Dollar doppelt so hoch wie der Durchschnitt der Länder mittleren Einkommens (nach Angaben der Weltbank: 4 721 US-Dollar). Ab 2016 bremsten jedoch politische Umbrüche und die Kürzung von Sozialleistungen (auch unter der Regierung Jair Bolsonaro 2019–2022) die Bekämpfung der Armut wieder aus. 2019 – noch vor der Corona-Krise – war das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf auf 8 845 US-Dollar gesunken. Zwischen 2013 und 2019 stieg der Anteil der in extremer Armut lebenden Brasilianer und Brasilianerinnen von 3,3 % auf 5,5 % an.

Besonders hoch ist der Anteil der Armen im Nordosten und Norden sowie in den Favelas, den Elendsquartieren der großen Metropolen (s. 243.7), die es auch in Regionen mit generell „guten“ Lebensbedingungen noch immer in großer Zahl gibt. Nicht zuletzt aufgrund dieser ausgeprägten sozialen Disparitäten haben Großstädte wie Rio de Janeiro oder São Paulo nach wie vor massive Probleme mit Kriminalität, Drogendelikten und Bandenstrukturen. Die Verringerung der Armutsquote und der ungleichen Einkommensverteilung innerhalb der brasilianischen Gesellschaft durch Infrastrukturmaßnahmen und eine Verbesserung des Sozial- und Gesundheitswesens wird auch weiterhin auf der Agenda der Regierung weit oben stehen müssen, wenn sie einer Verschärfung der sozialen Konflikte entgegenwirken und die soziale Kohärenz stärken möchte.

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Diercke

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