Neu-Oerlikon - Umbau zum Wohn- und Dienstleistungszentrum - 1990

Schweiz - Zürich
978-3-14-100919-4 | Seite 47 | Abb. 3| Massstab 1 : 10000

Überblick

Die beiden grossmassstäblichen Neu-Oerlikon-Karten veranschaulichen exemplarisch die Um- und Neunutzung eines brachgefallenen Industriegeländes in einem städtischen Raum. Neu-Oerlikon, vormals ZZN (Zentrum Zürich Nord) genannt, grenzt nördlich an den Bahnhof Oerlikon. Das rund 60 ha grosse ehemalige Industrieareal zählt zu den grössten innerstädtischen Entwicklungsgebieten der Schweiz. Die Fläche entspricht in etwa der Grösse der Altstadt Zürichs, was im Kartenvergleich (vgl. 47.2) gut ersichtlich ist. Das Areal liegt im nördlichen Stadtgebiet Zürichs und ist vom Hauptbahnhof Zürich etwa 4 km, vom Flughafen etwa 5 km Luftlinie entfernt.

Um- und Neunutzung von Industriearealen

Bis zum Bau der von Zürich nach Norden Richtung Schaffhausen und Winterthur führenden Bahnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Oerlikon ein Bauerndorf. Mit den Bahnbauten kamen die Industrieansiedlungen. Neben Winterthur und Baden wurden hier die bedeutendsten schweizerischen Maschinenfabriken errichtet: die Werkzeugmaschinen- und Waffenfabrik Oerlikon-Bührle sowie die Maschinenfabrik Oerlikon (spätere BBC, schliesslich ABB). Beide trugen den Namen Oerlikons in die ganze Welt hinaus. Oerlikon wurde zum wichtigsten Subzentrum der Stadt Zürich und ist heute das Zentrum für ganz Zürich Nord.
In den frühen 1980er-Jahren begannen sich die Fabrikationshallen zu leeren, und erste Ideen für eine Umnutzung des Areals und der Anlagen wurden formuliert. 1988 startete ein zehnjähriger, komplexer Planungsprozess. 1998 wurden die Resultate in sogenannten Sonderbauvorschriften und dazugehörigen Richtlinien rechtsverbindlich festgehalten. Sie regeln Nutzung, Landzuteilung und Erschliessung. In Neu-Oerlikon sollten rund 12 000 Arbeitsplätze geschaffen werden; rund 5 000 Menschen würden im neuen Stadtteil leben. Alle Vorhaben sollten bis 2005 realisiert werden. Die Entwicklung ging aber sehr viel schneller voran, so dass 2005 bereits grosse Teile des Areals umgenutzt waren.
Die linke Karte zeigt den Zustand vor der Umnutzung. Prägend sind die grossen Industriebauten, die sich deutlich von der Bebauung der umliegenden Quartiere abheben. Erschlossen wurde das Gelände durch Industriegeleise und Strassen. Die einzelnen Betriebsgelände waren nicht frei zugänglich, stellten also eine Art „verbotene Stadt“ dar. Die Karte rechts zeigt den Zustand nach der Umsetzung der Sonderbauvorschriften mit Stand 2023. Ersichtlich ist eine gewisse funktionale Trennung von Wohnen, Arbeiten, Versorgung und Erholung/Kultur. Dienstleistungsbauten und Gewerbe sind vor allem in der Nähe des Bahnhofs Oerlikon angesiedelt. In mittlerer Distanz zum Bahnhof dominiert die Mischnutzung und in den weiter entfernten Lagen schliesslich die Wohnnutzung. Gut erkennbar sind die grosszügigen Parkanlagen, die zum Markenzeichen des neuen Stadtteils geworden sind – und ihn auch für den Veloverkehr attraktiv machen. In gewissen Bereichen des Gebietes wird noch produziert, so z. B. im Teilgebiet südlich der Binzmühle und westlich der Birchstrasse wie auch entlang der Brown Boveri-Strasse, wo industrienahe Nutzungen zu finden sind. Vielfältige Zwischennutzungen sind über das gesamte Gebiet verteilt zu finden. Weitere Merkmale der Umnutzung sind die Öffnung der ehemals verbotenen Stadt durch ein neu angelegtes Strassen- und Wegenetz sowie das Verschwinden der Industriegeleise.

Strukturwandel und Massnahmen der Umnutzung

Die Abnahme der industriellen Produktion und die Verschiebung vom zweiten zum dritten Wirtschaftssektor hinterliessen in der Schweiz, wie auch in allen anderen Industrieländern, viele, nicht mehr für die industrielle Produktion benötigte Areale. Die aus einer Erhebung des Bundesamtes für Raumentwicklung und des Bundesamtes für Umwelt hochgerechneten neu nutzbaren ­Brachflächen ergeben eine Fläche von rund 17 Mio. Quadratmetern. Das ist eine Fläche grösser als die der Stadt Genf. Diese Areale bieten Raum für Wohnungen für 190 000 Menschen und für 140 000 Arbeitsplätze. Rund 80 % der Brachflächen in der Schweiz befinden sich in urbanen Räumen, z. T. an sehr gut erschlossenen Lagen, wie z. B. Neu-Oerlikon. Auch in Zürich vollzog sich ein ausgeprägter Wandel, weg von der industriellen Produktion hin zur kommerziellen Dienstleistung (vgl. Karte 47.2). Zürichs Wachstum und seine zunehmende wirtschaftliche Bedeutung waren stark an die Ansiedlung grösserer Industrien und den Ausbau des Eisenbahnnetzes im ausgehenden 19. Jahrhundert gebunden. Die Maschinenindustrie als Hauptpfeiler der Zürcher Industrie verzeichnete jedoch seit den 1970er Jahren grosse Einbrüche. Sie verlor aufgrund des starken Frankens zunehmend ihre internationale Konkurrenzfähigkeit und sah sich mit hohen Bodenpreisen in den städtischen Lagen konfrontiert. Als Folge davon ging die Beschäftigung im Maschinenbau in der Stadt Zürich von 36 078 im Jahre 1965 auf 1 500 im Jahre 2021 zurück. Im Gegenzug verzeichnete die gesamte Dienstleistungswirtschaft (insbesondere die Finanzdienstleistung) starke Beschäftigungszunahmen. Durch den Rückzug der Industrie aus gut erschlossenen, innerstädtischen Lagen begann in Zürich ein Ringen um die Neuerschliessung.
Ende der 1980er-Jahre drängte in Zürich der expandierende Dienstleistungssektor in die frei werdenden Industriegebiete. Der Widerstand auf politischer Ebene und insbesondere die beginnende Rezession vereitelten die Expansionspläne des Dienstleistungssektors weitgehend. Die planerische und wirtschaftliche Krise der 1990er-Jahre legte schliesslich den Grundstein für eine Neuaushandlung der Zürcher Stadtentwicklung. Gegen Ende der 1990er-Jahre setzte der städtebauliche Aufbruch ein.
Bis zur konkreten Umsetzung mussten zwischen Politik, Wirtschaft und Bevölkerung zahlreiche Konflikte gelöst werden. Die Politik strebte attraktive Aussenräume und durchmischte, urbane Quartiere an. Die Unternehmen und die Grundeigentümer waren an hohen Renditen interessiert. Die Bevölkerung forderte den Bau von Wohnungen und wünschte sich weniger Verkehr in den Quartieren.

Der Weg zum neuen urbanen Quartier

Diese Stadtplanungsdebatte der 1990er-Jahre, die vergleichbar auch in anderen prosperierenden Städten stattfand (z. B. Frankfurt am Main), kann exemplarisch an der durch den wirtschaftlichen Strukturwandel freigesetzten Entwicklungsreserve in Zürich-Oerlikon dargestellt werden. Hintergrund der Auseinandersetzung bildete die Revision der gesamtstädtischen Bau- und Zonenordnung (BZO) Anfang der 1990er-Jahre.
Bereits zu Beginn der 1980er-Jahre wurde absehbar, dass grosse Teile der Werkgelände der Oerlikon-Bührle und der BBC (heute ABB) nicht mehr für die Produktion gebraucht würden. Die Firmen bemühten sich zunächst um eine Öffnung der Industriezone für Dienstleistungsnutzungen, welche immense Aufwertungsgewinne versprach. Die Stadt hatte jedoch kein Interesse an dieser Nutzungsänderung respektive -erweiterung. Die Landbesitzer merkten, dass sie neue Wege einschlagen mussten, um ihre brachliegenden Landreserven zu mobilisieren.
Die beiden grossen Grundeigentümer beauftragten zunächst einen Architekten, neue Nutzungsformen für das rund 60 ha grosse Gebiet vorzuschlagen. Diese wurden 1988 der Stadt vorgelegt und wurden zur Grundlage für eines der ersten kooperativen Planungsverfahren in der Schweiz. In einem Public-Private-Partnership-Verfahren erarbeiteten die Grundeigentümer ABB, Oerlikon-Bührle und die SBB gemeinsam mit der Stadt Zürich innerhalb von 10 Jahren die rechtlichen Grundlagen für die Umnutzung. Auf der Basis des Nutzungskonzepts „Chance Oerlikon 2011“ wurde ein Ideenwettbewerb für die künftige Nutzung ausgeschrieben. Das Siegerprojekt legte den Nutzungsmix, der den Wandel von einem Industriegebiet in einen durchmischten Stadtteil mit 12 000 Arbeitsplätzen und Wohnungen für rund 5 000 Menschen ermöglichen sollte, detailliert fest. Nach einem gesetzlich vorgeschriebenen öffentlichen Mitwirkungsverfahren wurden die Planungsvorstellungen in Sonderbauvorschriften und in einen Rahmenvertrag umgewandelt, welche 1998 vom Gemeinderat genehmigt wurden.
Im Rahmenvertrag zwischen den privaten Grundeigentümern und der Stadt wurde die Teilung der Infrastrukturkosten von rund 100 Millionen Franken geregelt. Für die massgeschneiderte, durchaus lukrative Lösung traten die Grundeigentümer Grundstücke für Strassen und Grünanlagen an die Stadt ab und beteiligten sich mit Finanzbeiträgen am Bau von Kanalisation, Strassenbeleuchtungen usw. Damit konnte die üblicherweise fehlende Möglichkeit der Mehrwertabschöpfung durch die öffentliche Hand erreicht werden. Schneller als erwartet setzten die bauliche Umnutzung des Gebiets und die Erstellung von Grünanlagen ein. Im Jahr 2000 bezogen die ersten Bewohner die neuen Wohnsiedlungen. In den folgenden Jahren nahm das neue Quartier seine heutigen Formen an; der jüngste Bauabschnitt – eine Verdichtung rund um den Bahnhof Oerlikon mit gemischter Gebäudenutzung – ist auch 20 Jahre später noch nicht abgeschlossen. Der Bahnhof Oerlikon wurde zwischen 2010 und 2016 um- und ausgebaut und bietet heute Hunderte überdachte Velo-Abstellplätze.

Die schwierige Umnutzung von Industriearealen

Anders als im Fall von Neu-Oerlikon kann sich jedoch die Umnutzung von Industriearealen auch noch länger verzögern oder kommt gar nicht voran. Haupthindernisse sind fehlende Nutzer und Investoren, die aufgrund geringer Standortqualität kein Interesse an einer Neugestaltung zeigen. Dies unterstreicht die grosse Bedeutung der Standortfaktoren (Erreichbarkeit und Lage im übergeordneten Stadtraum), die im Fall Oerlikons überaus gut waren. Weitere Probleme ergeben sich aus den oft starren örtlichen Bau- und Zonenordnungen, die für die grossflächigen Areale zu wenig flexibel ausgestaltet sind. Der zehnjährige Prozess in Oerlikon, der zu einer Sondernutzungsplanung führte, illustriert die Notwendigkeit zur Flexibilität in der Planung. Nicht zu vergessen sind schliesslich Altlasten, die als Erbe der industriellen Produktion und des sorglosen Umgangs mit Problemstoffen die Umnutzung erschweren können. Die hohen Sanierungskosten von bis zu 1 000 Franken pro Quadratmeter können in peripheren, wenig attraktiven Standorten durchaus zu negativen Landwerten führen.

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