Überblick
Kaum irgendwo auf der Welt zeigen sich die sozialen und wirtschaftlichen Disparitäten im Zeitalter der Globalisierung so ausgeprägt wie im Süden Asiens, wo extremer Reichtum und äußerste Armut in unmittelbarer Nachbarschaft existieren. Indien, das hinsichtlich seiner Bevölkerung zweitgrößte Land der Erde, hat seit Beginn der 1990er-Jahre einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt und in Wachstumsbranchen wie der Informationstechnologie ein internationales Spitzenniveau erreicht, ist aber immer noch ein Schwellenland.Soziale und wirtschaftliche Disparitäten in Indien
Mit dem BIP pro Kopf und dem Anteil armer Bevölkerung lässt sich ermitteln, in welchen indischen Bundesstaaten der Entwicklungsstand deutlich unter dem Landesdurchschnitt liegt.
Obwohl Indien in den letzten Jahren bei den Importen und Exporten enorme Zuwachsraten verzeichnen konnte und das BIP 2022 3 468 Mrd. US-Dollar erreichte und kontinuierlich (mit Ausnahme im Jahr 2020) Zuwachs verzeichnete, leben Millionen Inder in drückender Armut. Rund 16 Prozent der indischen Bevölkerung, 230 Mio. Menschen, leben unter der Armutsgrenze; ein Großteil von ihnen leidet an Hunger. Zwar ist Indien damit, in absoluten Zahlen gemessen, nach wie vor das Land mit den meisten armen Menschen (vor Nigeria und Pakistan), jedoch konnten durch Maßnahmen zur Armutsbekämpfung in den letzten 15 Jahren deutliche Erfolge verzeichnet und die Zahl Armen in Indien deutlich verringert werden.
Dennoch leben nach wie vor viele Menschen unter der Armutsgrenze. Die ärmste Bevölkerung des Landes lebt entweder in den ausufernden Slums der zahlreichen Millionenstädte oder in besonders ländlich geprägten Regionen wie dem Bundesstaat Bihar, in dem sich keine nennenswerte Industrie etabliert hat (s. 186.1), in dem aber auch die Landwirtschaft eine Familie kaum noch ernähren kann.
Auf der anderen Seite gibt es vor allem im Westen und Süden des Subkontinents sowie in der Hauptstadtregion eine Reihe von Bundesstaaten, in denen das durchschnittliche BIP pro Kopf vor allem in den letzten 35 Jahren deutlich gestiegen ist und im indischen Vergleich hoch ist. Ursachen dieser Entwicklung waren vor allem die Ansiedlung neuer Industriezweige und internationaler Großunternehmen, der Ausbau des Dienstleistungssektors, naturräumliche Vorteile, aber auch gezielte Agrarreformen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Im Bundesstaat Kerala beispielsweise hat der Dienstleistungssektor in den letzten Jahrzehnten durch die Entwicklung des Tourismus hohe Wachstumsraten erzielt; außerdem gibt es eine sehr leistungsfähige exportorientierte Landwirtschaft. Im stark industrialisierten Bundesstaat Tamil Nadu haben sich internationale Automobilkonzerne und zahlreiche Betriebe aus der Informations- und Biotechnologie angesiedelt, dort liegt auch das indische Weltraum-Zentrum Sriharikota. Immer mehr global agierende Unternehmen lagern ganze Bereiche wie Kundensupport (für den englischen Sprachraum) und Buchhaltung nach Südindien aus (s. 192.3).
Zu den anderen Staaten Südasiens
Im Nachbarland Pakistan leben rund 20 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Das Land hat reiche Rohstoffvorkommen, ist aber – verglichen mit Indien – arm an Industrie und damit auch an Erwerbsmöglichkeiten für die Bevölkerung. Die Infrastruktur ist vielerorts unzureichend, und über die äußeren Landesteile hat die Zentralregierung nur begrenzte Macht. Dass sie von islamistischen Terroristen als Rückzugsgebiete genutzt werden, verstärkt die politische Unsicherheit des Landes. Der hinsichtlich der Beschäftigungs- und Erwerbsmöglichkeiten wichtigste Wirtschaftszweig ist die auf einem weit verzweigten Bewässerungssystem beruhende Landwirtschaft, insbesondere der Anbau von Weizen, Baumwolle, Reis und Zuckerrohr. Die beiden wichtigsten Industriezentren Pakistans sind Lahore (Bevölkerungszahl 2022: 11 Mio.) und die Küstenstadt Karachi (Bevölkerungszahl 2022: 16 Mio.), die größte Stadt des Landes.
Bangladesch und Nepal gehören zu den nur mittel entwickelten Ländern der Erde (2022: HDI-Rang 129 bzw. 143, vgl. 288.1). Ähnlich wie in den armen Regionen Indiens fehlt es in beiden Ländern nicht nur an Erwerbsmöglichkeiten außerhalb der Landwirtschaft, sondern in den unwegsamen Hochgebirgstälern bzw. Deltaregionen an verkehrstechnischen Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Diese Mängel in der Infrastruktur werden durch Nachteile wie die periphere Lage, die Binnenlage Nepals und Naturrisiken verstärkt; Bangladesch wird überdurchschnittlich häufig von schweren Überflutungen heimgesucht (s. 193.7).
Wirtschaftlich positiv entwickelte sich Sri Lanka vorerst nach dem Ende der lange anhaltenden bürgerkriegsähnlichen Kämpfe zwischen der Armee und den separatistischen tamilischen Rebellen ab 2009, was sich in einem vergleichsweise hohen Entwicklungsstand (2022: HDI-Rang 73; hohe menschliche Entwicklung) widerspiegelt. Allerdings kämpfte der Staat in den letzten Jahren mit einer Wirtschaftskrise, die mit einer rasant steigenden Inflation verbunden war. Massenproteste und schließlich der Rücktritt des Präsidenten waren die Folge.
Bhutan erreicht zwar nur einen insgesamt mittleren Entwicklungsstand (2022: HDI-Rang 127), verfügt aber bei vielen Basisindikatoren zur sozialen Entwicklung (Lebenserwartung, Wasserversorgung, Alphabetisierung) über deutlich bessere Werte auf als seine Nachbarstaaten; dies gilt auch für das BIP pro Kopf. Die Wirtschaft Bhutans ist eng mit der Indiens verknüpft.