Überblick
Die Lage Venedigs mitten in einer Lagune der nördlichen Adria ist ein Relikt der späten Völkerwanderungszeit. Die romanische Bevölkerung der Region suchte im 6. Jahrhundert Schutz vor den einwandernden Langobarden auf den Inseln in der Lagune und gründete hier eine Stadt. Die Lage erwies sich in der Folgezeit für das vom Fernhandel mit der Levante lebende Venedig als ausserordentlich vorteilhaft. In der Mittlerrolle zwischen Orient und Okzident entwickelte sich die Stadt zu einer der wirtschaftlich und politisch bedeutendsten Mächte Europas. Eine Fülle kunst- und kulturgeschichtlich herausragender Bauwerke bezeugen ihre einstige Bedeutung.Stadtgeschichte
Von Anbeginn an haben die Einwohner und Herrscher Venedigs ihren Siedlungsraum gestaltet. Die ganze Altstadt ruht auf Millionen Holzpfählen, die in den schlammigen Untergrund gerammt wurden. Durch Landgewinnung, Zuschüttung von Kanälen, Abriss und Neubebauung usw. hat sich die Stadt immer wieder verändert.
Bereits im Mittelalter wurde Venedig mit seiner Bevölkerung von 85 000 bis 100 000 (um 1300) in sechs Stadtteile („Sestieri“) aufgeteilt, wobei San Polo mit dem Mercato di Rialto das wirtschaftliche Zentrum bildete, während San Marco mit Dogenpalast und Markusdom als politisches und kulturelles Zentrum fungierte. Zu Dorsoduro zählt auch La Giudecca, die kleine Inselgruppe südlich der Altstadt. In einem Ghetto im Norden der Stadt lebten die Juden Venedigs, die einen grossen Anteil an der städtischen Wirtschaft hatten. Napoleon gründete nach der Säkularisierung von Klöstern das Städtische Krankenhaus Santi Giovanni e Paolo und liess im Osten Altvenedigs den Stadtpark anlegen, der seit 1895 Standort der im zweijährigen Turnus stattfindenden Biennale ist. 1846 wurde der Inselcharakter Venedigs aufgehoben: Die Eisenbahnbrücke zum Festland ging in Betrieb. Um diese Zeit wurde das nördlich gelegene San Michele zur Friedhofsinsel erklärt, erweitert und mit baulichen Massnahmen gegen Hochwasser geschützt.
Tourismus und Entwicklung der Bevölkerungszahlen
Die gesamte Stadt, die weitgehend aus historischer Bausubstanz besteht, wurde 1987 in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Zu den bekanntesten und prächtigsten Bauwerken zählen neben dem Dogenpalast und der Markuskirche die am Canale Grande aufgereihten Palazzi, die früher zumeist als Wohn- und Geschäftshäuser der venezianischen Fernhändler dienten.
Die Lagunenstadt gilt heute als eines der schönsten und bedeutendsten Reiseziele weltweit; der Grossteil der touristischen Gäste sind Tagestouristen. Die Hotels, die sich vor allem am Bahnhof und in der Nähe des Markusplatzes konzentrieren, stehen exemplarisch für die enorme wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus. Auch die ausgedehnten Parkplatzflächen im Westen der Stadt weisen auf die grosse Zahl der Kurzurlaubsreisenden hin, die mit Bussen oder Pkws in die Lagunenstadt kommen und dabei die 1933 eröffnete Strassenbrücke nutzen.
Der boomende Tourismus hatte allerdings auch massgeblich Anteil daran, dass sich die Lebensbedingungen in der Altstadt für die Einheimischen immer mehr verschlechtert haben, weshalb vor allem junge Menschen und Familien mit Kindern in den letzten Jahrzehnten verstärkt auf das Festland abwandert sind. Die Folgen für das historische Zentrum sind schrumpfende Bevölkerungszahlen bei einer tendenziell ungünstigen Altersstruktur. Das Diagramm zeigt die Bevölkerungszahlen für die im Kartenausschnitt abgebildete Altstadt Venedigs sowie den Lido mit weiteren Lagunen-Inseln (z. B. Murano, Burano) und Festland-Venedig für 1951 und 2021 im Vergleich.
Strukturprobleme der Lagunenstadt
Die Inselsituation Venedigs lässt in wirtschaftlicher Hinsicht fast nur eine tertiäre, touristische Nutzung. Dieser Wirtschaftszweig stellt jedoch nur eine quantitativ und qualitativ begrenzt Zahl von Arbeits- und Ausbildungsplätzen bereit. Gleichzeitig führt er dazu, dass sich die Infrastruktur des täglichen Bedarfs für die Wohnbevölkerung permanent verschlechtert, weil kleine Lebensmittelläden, Facheinzelhändler und Handwerker zunehmend durch Andenkenläden und andere touristische Angebote verdrängt werden.
Hinzu kommt, dass die Wohnverhältnisse schwierig sind. Die meisten unteren Geschosse in der Altstadt sind aufgrund der häufigen Hochwasser unbewohnbar, überdies ist die sanitäre und heizungstechnische Ausstattung vieler Altbauwohnungen mangelhaft.
Konzepte für die Zukunft
Um Venedig langfristig vor dem Verfall zu schützen, muss die Stadt ihre lebensfähigen Funktionen behalten und der Bevölkerung Wohnraum und Arbeitsplätze bieten. Erfolgversprechend erscheint die Stärkung ihrer Funktionen als Kultur-, Verwaltungs- und Versorgungszentrum.
Gegen die Vereinnahmung der Stadt durch den Tourismus und die damit verbundene Verschlechterung der Lebensbedingungen sowie ökologische Probleme, regte sich in den letzten Jahren zunehmend Widerstand. Nach vehementen Protesten der Bevölkerung hat die Stadt die Lagune von Venedig für Kreuzfahrtschiffe gesperrt. Diese müssen stattdessen im Industriegebiet Porto Marghera anlegen. Als weitere Massnahme wird ab Anfang 2024 eine Eintrittsgebühr für Tagesbesucher in Höhe von 5 Euro erhoben. Ein grosses Problem ist die Vermietung des beschränkten Wohnraums mit gutem bis hohem Standard an zahlungskräftige Kurzurlauber über Online-Plattformen wie z. B. Airbnb. Dadurch wird der für Einheimische zur Verfügung stehende Wohnraum künstlich verknappt, was zu sehr hohen Miet- bzw. Kaufkosten führt. Dadurch wandelt sich das Venedig im Kartenausschnitt immer mehr zu einem „Freilichtmuseum“ und verliert an Authentizität.
Kampf gegen die Hochwassergefahr
Hochwasser ist ein periodisch auftretendes Problem in Venedig (s. Diagramm). Da das natürliche Regulierungssystem der Lagune gestört ist, wird die Situation seit Jahrzehnten immer bedrohlicher. In den 1950er-Jahren gab es etwa sieben Hochwassertage pro Jahr, mittlerweile sind es bereits bis zu 50 Tage.
Überdies droht die Stadt zu versinken. Früher sank Venedig um zwei Millimeter pro Jahr, heute sind es effektiv vier bis sechs Millimeter; in diesem Wert enthalten ist der weltweite Meeresspiegelanstieg von ein bis zwei Millimetern pro Jahr. Um die Gefahr in Zukunft einzudämmen, wurde 2003 mit dem Bau von drei grossen Hochwassertoren begonnen (vgl. Karte 111.3), die bei Bedarf die Lagune von der Adria abriegeln können. Dieses ökologisch umstrittene und von Korruptionsaffären begleitete Jahrhundertprojekt namens MO.S.E (für Modulo Sperimentale Elettromeccanico) schützt seit der Fertigstellung 2020 die Lagune vor weiteren Hochwassern.