Zürich - Agglomeration

Schweiz - Zürich
978-3-14-100919-4 | Seite 46 | Abb. 1| Massstab 1 : 200000

Überblick

Zürich stellt in der Schweiz das eindrücklichste Beispiel für die Agglomerationsentwicklung seit 1950 dar. In der Agglomeration Zürich wohnten 1950 rund 450 000 Personen, die auf die Stadt Zürich (390 000) und 14 suburbane Gemeinden (60 000) verteilt waren. 1960 umfasste die Agglomeration bereits 40 Gemeinden und rund 600 000 Einwohner. Zwischen 1960 und 1970 wurden erstmals Gemeinden von ausserhalb des Kantons Zürich in die Agglomeration Zürich eingebunden. 2016 umfasste die Agglomeration Zürich 151 Gemeinden in den Kantonen Zürich, Aargau, Schwyz und Schaffhausen. Zusammen mit der Kernstadt zählt die Agglomeration Zürich heute 1 461 000 Einwohner, d. h. sie ist heute der grösste urbane Raum der Schweiz und gilt als die Wirtschaftsmetropole der Schweiz schlechthin. Trotz ihrer grossen wirtschaftlichen Bedeutung stellen Agglomerationen jedoch keine institutionellen Einheiten dar.
In der Karte werden die Folgen einer funktionalen Entmischung und räumlichen Segregation gut ersichtlich. Ausgewiesen sind Die Gemeinden der Agglomeration werden auf zwei Weisen charakterisiert: zum einen – flächenhaft eingefärbt – nach ihrer Funktion für den urbanen Raum (siehe nächster Absatz), zum anderen – durch verschieden grosse/eingefärbte Kreissignaturen – im Hinblick auf die Daseinsgrundfunktionen Wohnen, Arbeiten und Mobilität. Neben dem absoluten Arbeitsplatzangebot ist auch abzulesen, ob es sich um Gemeinden mit Arbeitsplatzdefizit (Auspendlergemeinden) oder -überschuss (Einpendlergemeinden) handelt.
Zudem können Rückschlüsse auf die Polarisierung innerhalb der Agglomeration gezogen werden; auffällig einkommensstarke Gemeinden sind hervorgehoben.

Agglomerationen – Räume mit städtischem Charakter

Das Bundesamt für Statistik definiert den Begriff „Agglomeration“ anhand mehrerer Kriterien. Diese ändern sich ich Laufe der Zeit, wodurch auch die Definition der Agglomeration einem Wandel unterworfen ist. Seit 2012 spricht das Bundesamt für Statistik vom sogenannten „Raum mit städtischem Charakter“, um die heutigen urbanen Strukturen der Schweiz statistisch abzubilden. Die Methode besteht aus einem mehrstufigen Verfahren: Zunächst werden in Rasterzellen die Dichten von Einwohnern, Beschäftigten und Logiernächten untersucht, um Agglomerationskerne zu identifizieren. Die so gefundenen Agglomerationskernzonen sind also Gebiete, die eine definierte Mindestdichte an Einwohnern, Beschäftigten und Logiernächten aufweisen. Auf diese Weise kann der Einfluss von historisch gewachsenen Grenzen (z. B. Gemeinde- und Kantonsgrenzen) minimiert werden. Anschliessend wird definiert, welche politischen Gemeinden, die in diesen hochdichten Räumen liegen, als Kerngemeinden gelten. Diese Kerngemeinden werden dann anhand der Pendlerzahlen noch weiter differenziert. Überschreitet die Anzahl Pendler, die von einem Kern in den anderen zur Arbeit fahren, so wird der erste Kern zum Nebenkern, der zweite zum Hauptkern. Beide Kerne liegen jedoch in derselben Agglomeration. In einem nächsten Schritt wird bestimmt, welche Gemeinden zum Agglomerationsgürtel gehören. Es sind jene Gemeinden, aus denen mindestens ein Drittel der Beschäftigten in einen Kern (Haupt- oder Nebenkern) der Agglomeration pendeln. Für Agglomerationen wird eine Mindestgrösse festgelegt: Die Gemeinden der Kerne und des Agglomerationsgürtels müssen zusammen mindestens 20 000 Einwohner zählen, um als Agglomeration zu gelten. Dadurch können die neu definierten Agglomerationen besser mit den früheren Definitionen verglichen werden. Zudem wird so verhindert, dass statistisch allzu kleine Agglomerationen gebildet werden, die dem urbanen Raumverständnis der Schweiz nicht entsprechen. Da mit der beschriebenen Methode nicht alle Gemeinden des urbanen Raums eindeutig einer Agglomeration zugeordnet werden können, wurde eine Kategorie „mehrfach orientierte Gemeinde“ geschaffen. Es handelt sich hierbei um Gemeinden, die aufgrund ihrer Pendlerverflechtungen auf mehr als nur einen Agglomerationskern ausgerichtet sind. Schliesslich werden auch noch sogenannte „Kerngemeinden ausserhalb von Agglomerationen“ zum Raum mit städtischem Charakter gezählt. Sie weisen zwar eine Mindestdichte an Einwohnern, Beschäftigten und Logiernächten auf, sind jedoch aufgrund der oben beschriebenen Definition nicht Teil einer Agglomeration.
Agglomerationen werden grenzüberschreitend definiert. Sie können also sowohl schweizerische als auch ausländische Gebiete umfassen.

Funktionale Entmischung und räumliche Segregation

Die Kernstadt Zürich hat im Zuge des Suburbanisierungsprozesses seit 1950 – gemessen an der Bevölkerungszahl – einen starken Bedeutungsverlust erfahren. 1950 wohnten noch 87 % der Agglomerationsbevölkerung in der Kernstadt selbst, 2000 waren es nur noch 34 % und 2023 rund 30 %. Seit 1962 verlor die Kernstadt an Einwohnern: Vom Höchststand im 20. Jahrhundert (1962: 440 000 Einwohner) sank die Zahl bis ins Jahr 2000 auf rund 363 000. Seither wächst die Bevölkerungszahl in der Kernstadt wieder: 2023 wohnten rund 447 000 Personen in Zürich, wobei auch die Agglomeration um die Kernstadt einen deutlichen Bevölkerungszuwachs verzeichnete.
An die Agglomeration Zürich grenzen überdies mehrere mittelgrosse Agglomerationsräume (u. a. die aus der Karte ersichtlichen Baden–Brugg, Zug, Rapperswil-Jona–Rüti, Winterthur). Zwischen diesen Agglomerationsräumen und der Stadt Zürich bestehen enge Pendlerverflechtungen. Solche grossflächigen städtischen Verdichtungsräume werden als Metropolitanräume bezeichnet. Dieser sich weit in der Nordwestschweiz erstreckende Metropolitanraum Zürich umfasst über 2,5 Millionen Einwohner.
Suburbanisierungsprozesse sind immer begleitet von einer räumlichen Entmischung der Wohn- und Arbeitsstätten. Die verkehrstechnischen Entwicklungen und der Ausbau des Verkehrsnetzes selbst ermöglichen diese klare Trennung von Wohnen und Arbeiten. Doch diese Entmischungsvorgänge sind letztlich auch Kennzeichen marktwirtschaftlich orientierter Systeme, denn die interne Struktur des Agglomerationsraumes ist von der an einem bestimmten Standort erzielbaren Wertschöpfung bestimmt: Diejenige Nutzung, welche die Bezahlung der höchsten Bodenpreise zulässt, kann sich an einem bestimmten Standort etablieren. Tendenziell wird dabei vor allem die Wohnnutzung, aber auch das Gewerbe aus dem Zentrum ins Umland verdrängt.
Neben der funktionalen Entmischung ist die Agglomerationsentwicklung auch durch soziale Differenzierung gekennzeichnet. Diese manifestiert sich unter anderem als räumliche Segregation entlang des Einkommens. Mittelständische und wohlhabende Haushalte ziehen von der Kernstadt in die Agglomerationsgemeinden. Dadurch entsteht eine soziale Polarisierung. In jüngster Zeit lassen sich jedoch im Zuge von Reurbanisierungstendenzen auch Gentrifizierungsprozesse beobachten, die eine Aufwertung und Wiederbelebung der Kernstadt bewirken sollen.

Gemeindetypen innerhalb der Agglomeration Zürich

Die Gemeindetypologie basiert auf einem systematischen Ansatz nach dem Zentrum-Peripherie-Modell und wurde im Auftrag des Bundesamtes für Statistik erstellt. Sie klassiert Gemeinden nach sozioökonomischen Kriterien und zeigt die räumlichen Unterschiede in der sozialen und funktionalen Differenzierung der Gemeinden auf.
Die in der Karte durch punkthafte Kartensignaturen dargestellten Gemeindetypen innerhalb der Agglomeration Zürich können wie folgt knapp definiert werden:
Zürich, das Zentrum der Agglomeration: Neben den zentralen Funktionen in ökonomischer und kultureller Hinsicht weist diese grosse Stadtgemeinde ein Vielfaches der Arbeitsplätze umliegender Gemeinden auf. (Auch mit ihren fast 450 000 Einwohnern bleibt die Stadt innerhalb des Kartenausschnitts konkurrenzlos.)
Städtische Gemeinden innerhalb des Ballungskerns: In diesen Gemeinden ist das Verhältnis zwischen der Zahl der Arbeitsplätze und der Anzahl der in der Gemeinde Erwerbstätigen entweder ausgeglichen (Zu- und Auspendler halten sich in etwa die Waage – kein Operator-Zeichen im Kreismittelpunkt) oder es sind eher Einpendlergemeinden (nah dem Zentrum – kleines Plus-Zeichen im Kreismittelpunkt) bzw. Auspendlergemeinden (ferner dem Zentrum – kleines Minus-Zeichen). Die gute Verkehrsanbindung ist dagegen ein gemeinsames Kennzeichen all dieser Gemeinden.
Städtische Gemeinden ausserhalb des Ballungskerns: Diese Gemeinden orientieren auf andere Agglomerationszentren als Zürich; ansonsten gelten die Merkmale der vorherigen Klasse.
Suburbane Wohngemeinden: Der Auspendleranteil ist bei diesem Gemeindetyp gross, die Zahl der Arbeitsplätze bezogen auf die Einwohnerzahl gering. Der suburbane Charakter ergibt sich aus einem überdurchschnittlich hohen Anteil an Mehrfamilienhäusern.
Periurbane Wohngemeinden: Hier handelt es sich um Wohngemeinden mit stark negativer Pendlerbilanz, die einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Ein- und Zweifamilienhäusern aufweisen.
Einkommensstarke Gemeinden: Sie sind von wohlhabenden Steuerpflichtigen bewohnt und verfügen deshalb über verhältnismässig grosse Budgets. Hier sind solche Gemeinden (durch doppelte blaue Signaturenkontur) gekennzeichnet, bei denen ein zu versteuerndes Einkommen im Durchschnitt aller Erwerbstätigen über 100 000 Franken im Jahr beträgt. Als weitere Orientierung könnte aber auch der Bundessteuersatz herangezogen werden: Für eine kleine Gemeinde wird dieser Satz höher angesetzt, damit diese nicht aufgrund des finanziellen Wohlstandes eines einzigen Steuerzahlers in der Kategorie der reichen Gemeinden klassiert wird. Für Gemeinden in grosszentralen Regionen, wie z. B. Zürich, wird ebenfalls eine höhere Grenze festgelegt, um die Auswirkungen des allgemein höheren Einkommens- und Kostenniveaus auszugleichen.
Die Zuordnung zu einem Gemeindetyp lässt auch auf die vorherrschende Art des Wohnungsbaus schliessen. Die suburbanen Gemeinden sind vor allem durch hohe Anteile an Mietwohnungsbauten geprägt, während in den periurbanen und teilweise auch in den reichen Gemeinden Einfamilienhäuser dominieren.

Pendlerverflechtungen innerhalb der Agglomeration Zürich

Das räumliche Verteilungsbild der Gemeinden mit Arbeitsplatzdefizit und der Gemeinden mit einem Überschuss an Arbeitsplätzen ist überdies ein Indikator für die Pendlerverflechtungen innerhalb der Agglomeration. Die Pendlerbeziehungen sind aber ungeachtet dieser Beobachtung immer differenziert zu betrachten. Hauptpendelrichtung innerhalb der Agglomeration sind trotz diffuser werdenden Pendlerströmen nach wie vor die Kernstadt und zunehmend auch die Flughafenregion sowie die Gemeinden im Limmattal. Gewohnt wird bevorzugt im äusseren Agglomerationsgürtel. In der südlichen, stadtnahen Agglomeration zählen aufgrund der Zuwanderung wohlhabender Haushalte aus der Kernstadt zahlreiche Gemeinden zum Typ der einkommensstarken Gemeinden.
Die funktionale Entmischung und soziale Differenzierung führt zunehmend zu finanzpolitischen Problemen in den Gemeinden der Agglomeration. Die Tatsache, dass in der Schweiz die Kantone und Gemeinden eigene Einkommens- und Vermögenssteuern erheben und innerhalb gewisser Grenzen den Steuerfuss selber bestimmen können, führt dazu, dass gewisse Agglomerationsgemeinden durch den Zuzug gut verdienender Leute die Steuern laufend senken können, während sich die Kernstadt aufgrund des Wegzugs mittelständischer und wohlhabender Haushalte bei hohem zentralörtlich bedingten Finanzbedarf zu Steuererhöhungen gezwungen sieht. Dies belastet die Kernstadt-Umland-Beziehungen, da die Agglomerationsbewohner weiterhin die Leistungen der Kernstadt in Anspruch nehmen, wie z. B. Kultur- und Freizeiteinrichtungen, für die die Kernstadt aufkommen muss. Die politische Frage eines gerechten Finanz- und Lastenausgleichs innerhalb eines hoch verflochtenen Agglomerationsraumes bei gleichzeitiger Unterteilung in administrativ eigenständige Gemeindeeinheiten stellt sich gerade in der Agglomeration Zürich, aber auch in anderen Agglomerationen der Schweiz. Sie ist in der Schweiz Gegenstand fortlaufender politischer Aushandlungsprozesse.

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