Bratsk - Sozialistische Pionierstadt

Russland und Zentralasien - Räume im Wandel
978-3-14-100900-2 | Seite 183 | Abb. 5| Maßstab 1 : 300000

Überblick

Die Karte zeigt die Stadt Bratsk, deren neun Stadtteile sich in einem Umkreis von bis zu 50 Kilometern um den Nordteil des Bratsker Stausees gruppieren. Bratsk ist eine Siedlungsinsel in der Taiga – eine klassische Pionierstadt, die unter schwierigsten Bedingungen entstand. Kristallisationspunkte der Siedlungsentwicklung sind das Wasserkraftwerk und die Industriebetriebe. Typische Züge einer sozialistischen Stadt lassen sich an der engen Verbindung zwischen Wohnsiedlung und dem jeweils bestimmenden Industriebetrieb und am planmäßigen Grundriss erkennen.

Staumauer und Wasserkraftwerk

Das Bratsker Wasserkraftwerk war das erste Großprojekt der Sowjetunion in Sibirien nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Fluss Angara wurde von den sowjetischen Planern wegen seiner ausgeglichenen Wasserführung ausgewählt. Als Standort des Kraftwerks wurde die Paduner Enge bestimmt, wo die sonst in einem breiten Tal fließende Angara einen Gebirgsriegel in einem engen Durchbruchstal durchschneidet. Nach dreijährigen Rodungen und anderen Vorarbeiten wurde im Frühjahr 1957 unter dem Einsatz von 17 000 Arbeitskräften mit dem Bau begonnen. Vor der Füllung des Stausees mussten 40 Mio. Kubikmeter Holz eingeschlagen und 264 Siedlungen mit einer Bevölkerung von insgesamt 114 000 Personen verlegt werden. 1961 lieferte das Kraftwerk den ersten Strom, 1966 wurde die Staumauer (1 430 m lang, 125 m hoch) fertig gestellt. Mit einer Jahresleistung von 22,6 Mrd. Kilowattstunden wurde Bratsk das damals leistungsstärkste Wasserkraftwerk der Welt. Noch heute produziert es Strom.

Der Bratsker Stausee hat eine Fläche von 5 450 Quadratkilometern, das ist etwa ein Sechstel des Baikalsees bzw. ein Drittel Schleswig-Holsteins. Heute ist der See ein wichtiger Verkehrsweg, auch wenn er Schiffen und Flößen wegen der strengen Winter nur 120 Tage im Jahr offensteht.

Nachfolgende Industrien

Einige Industrieentwicklungen standen in engem Zusammenhang mit dem Aufbau des Standorts Bratsk. So wurde das im Bereich des späteren Bratsker Stausees geschlagene Holz zur Herstellung von Beton-Verschalungen und als Baumaterial für die ersten Siedlungen genutzt. Später entwickelte sich die Holzverarbeitung zu einem wirtschaftlichen Standbein. Einschließlich der Forstwirtschaft sowie der Zellulose- und Papierindustrie (mit Standorten am südlichen Stadtrand) waren Anfang der 1990er-Jahre 30 000 Arbeitskräfte in diesem Bereich tätig. Die Baustoffindustrie der Region stellte zunächst den für die Staumauer benötigten Beton her, später Betonfertigteile für den Siedlungsbau.

Das Wasserkraftwerk wurde zu einer wichtigen Basis des Industriestandorts Bratsk. Zeitweise nahm allein die Aluminiumindustrie zwei Drittel des vom Kraftwerk produzierten Stroms ab. Damit wurden jährlich bis zu 500 000 Tonnen Aluminium produziert. Daneben gab es in Bratsk eine Metall verarbeitende Industrie.

Siedlung und Bevölkerung zur Zeit der Sowjetunion

Die Stadtteile von Bratsk lehnten sich an die großen Industriebetriebe an, woraus sich eine Zersplitterung in Einzelsiedlungen ergab. Die Konzentration der Industrie auf die Kraftwerksregion und die etwa 40 Kilometer weiter südlich gelegenen, relativ ebenen Areale führte zur Großgliederung der Stadt in einen Nord- und einen Südbezirk.

Zentrum der Nordregion ist heute der Ortsteil „Energetik“, in dem – wie der Name sagt – ursprünglich vor allem die im Kraftwerk arbeitenden Menschen lebten. Zentrum des Südbezirks ist der Ortsteil „Central‘nyj“, auch einfach „Bratsk“ genannt. Beide Stadtteile wurden immer weiter ausgebaut und mit zentralen Funktionen ausgestattet. Das Kartenbild zeigt neben den Gebieten mit den typischen Hochhäusern in Fertigbauweise auch Gebiete mit Einfamilienhäusern, die von den Einwohnern selbst errichtet wurden – der private Wohnungsbau war eine Besonderheit in einer sozialistischen Stadt.

Die Bevölkerungszahl der 1957 gegründeten Stadt stieg bis 1991 auf 289 000 Menschen. Da der Wohnungsbau mit diesem Wachstum nicht Schritt halten konnte, lebten zu diesem Zeitpunkt viele Einwohner noch immer in Wohnheimen. Um das für Pioniersiedlungen charakteristische Übergewicht an Männern auszugleichen, wurden besonders Arbeitsplätze für Frauen geschaffen, etwa durch Gründung eines Bekleidungskombinats.

Die Versorgung der rasch wachsenden Bevölkerung in der Abgeschiedenheit der Taiga bereitete Schwierigkeiten. Der örtliche Gemüseanbau mit Unterglaskulturen auf rund zehn Hektar Fläche konnte den Bedarf nur zu etwa 25 Prozent decken. Die Bevölkerung war daher weitgehend auf die Eigenversorgung durch die intensiv gartenbaulich genutzten Datscha-Flächen angewiesen. Private Überschussprodukte konnten auf dem zentralen Kolchosmarkt verkauft werden. Ein Geflügelbetrieb versorgte die Bevölkerung mit Eiern und Hühnerfleisch, ein Betrieb verarbeitete den im See gefangenen Fisch.

Gegenwart

Heute leben rund 224 000 Menschen in Bratsk (2021), fast ein Viertel weniger als 1991. An der Wirtschaftsstruktur hat sich wenig geändert: Das Kraftwerk und die Aluminiumverhüttung sind nach wie vor bedeutende Betriebe. Auch die Zellulose- und Papierindustrie ist ein wichtiger Arbeitgeber.

Bis heute ist die Luft- und Wasserverschmutzung ein gravierendes Problem. Im Wasser des Stausees wurde Quecksilber gefunden, die Luftverschmutzung durch das Aluminiumwerk führte 2001 sogar zur Evakuierung von Einwohnern. Bratsk und Umgebung gelten als eine der am stärksten belasteten Regionen Russlands.

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Diercke

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