Überblick
Ein wesentliches Merkmal des asiatischen Wirtschaftsraums sind Ströme von Arbeitsmigration, die dem Gefälle der Wirtschaftskraft folgen (vgl. Dubai 191.5). Tag für Tag verlassen mehrere Tausend Filipinos ihr Land, um anderswo ein Auskommen zu suchen. Laut Philippine Statistics Authority emigrierten im Jahr 2021 1,83 Mio. Filipinos, um im Ausland einer Beschäftigung nachzugehen. Schätzungen zufolge gehen weltweit rund 10 Mio. Filipinos als Overseas Filipino Workers einer Arbeit nach.
Anfänge der Arbeitsmigration
Um 1950 waren die Philippinen noch die am weitesten entwickelte Volkswirtschaft in Südostasien nach Japan. Auch 25 Jahre später gingen gerade einmal 36 000 Filipinos einer Beschäftigung im Ausland nach. Zu einem Massenphänomen wurde die Arbeitsmigration erst, als in den 1980er-Jahren die asiatischen Tigerstaaten Singapur, Hongkong, Taiwan und Südkorea die Philippinen wirtschaftlich überholten (vgl. 206.1) und zugleich immer mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland anheuerten. In den aufstrebenden „Schwellenländern“ ermöglichen die „importierten“ Haushaltsangestellten den Angehörigen der neuen Mittelschicht die Vollerwerbsarbeit, während die Arbeitsmigrierten häufig vergleichsweise schlecht entlohnte Tätigkeiten übernahmen.
Es begann damit eine Entwicklung, die bis heute ungebrochen anhält: Menschen aus Ländern mit einem geringen Stand der menschlichen Entwicklung und einem geringen Bruttoinlandsprodukt (BIP) ziehen aufgrund der Arbeitsmigration in andere Länder, in denen der Lebensstandard und das Lohnniveau etwas besser sind, wodurch eine Art Migrationskette entsteht.
Temporäre Migration und Auswanderung
Etwa 90 Prozent der Menschen, die jährlich die Philippinen verlassen, gehen für einen gewissen Zeitraum ins Ausland, um Geld zu verdienen. Angelockt vom Bauboom in den Golfstaaten zieht es diese als Wanderarbeiter in Scharen in den Nahen Osten; die wichtigsten Zielländer sind Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Kuwait und Katar sowie Hongkong und Singapur. Mehrheitlich handelte es sich bei den Migrierten um Hauspersonal, Öl- oder Bauarbeiter. Darüber hinaus führen permanente Wanderströme in die umliegenden Staaten des ost- und südostasiatischen Raumes sowie nach Amerika, Australien und Europa, wobei sich die „typischen“ Qualifikationen der Migrierten je nach Zielland stark unterscheiden. Neben Hausangestellten, Arbeitern und Handwerkern gibt es inzwischen etwa 400 000 Filipinos, die als Seeleute arbeiten. Seit den 1990er-Jahren ist zudem eine starke Nachfrage nach qualifizierten und hochqualifizierten Arbeitskräften zu beobachten, vor allem im medizinischen Bereich und der IT-Branche.
Das Geschlechterverhältnis der philippinischen Migranten hat sich im Laufe der Jahrzehnte stark gewandelt. Um 1975 stellten Arbeitsmigrantinnen nur eine Minderheit von etwas mehr als 10 Prozent, doch dann nahm ihr Anteil rasant zu. Seit Mitte der 1980er-Jahre sind die Frauen mit einem Anteil von rund 60 Prozent – phasenweise sogar deutlich mehr – permanent in der Überzahl. Eine wichtige Ursache dieses Wandels war, dass die rasant zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen in den benachbarten Schwellenländern und anderswo ebenso wie der zunehmende Wohlstand in anderen Erdteilen zu einer rasant steigenden Nachfrage nach ausländischen Haushaltshilfen führte.
Soziale Hintergründe und gesellschaftliche Folgen
Wichtige Motive für die Arbeitsmigration sind die Hoffnung auf ein besseres Leben und der Mangel an Alternativen. Bei vielen, insbesondere Frauen, spielt überdies die moralische Verpflichtung gegenüber den eigenen Angehörigen eine wesentliche Rolle. Für viele arme Familien sind die Überweisungen aus dem Ausland die wichtigste Einkommensquelle.
Die hohen Rücküberweisungen von Arbeitsmigranten und -migrantinnen machen seit Jahren etwa 10 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts aus und sind deshalb für das Land von eminenter wirtschaftlicher Bedeutung. Das große Interesse des philippinischen Staats an der Arbeitsmigration äußert sich in umfangreichen institutionalisierten Unterstützungsmaßnahmen. Der Staat hat ein ganzes Netz von Einrichtungen geschaffen, die die internationale Migration von Filipinos begleiten und steuern, vom kostenlosen Vorbereitungsseminar für Wanderarbeiter bis zur Rechtsberatung. Ergänzt wird dieses Angebot durch private Vermittlungsagenturen, die bis in die letzten Winkel des Landes anzutreffen sind.
Die Kehrseite dieser Entwicklung ist, dass gerade die qualifizierten Kräfte in Scharen ins Ausland abwandern. Mehr als zwei Drittel aller philippinischen Ärzte beispielsweise zieht es ins Ausland, bevorzugt in die USA, wo sie selbst als Krankenpfleger deutlich mehr verdienen als ausgebildete Mediziner in ihrem Heimatland. Dieser Braindrain schwächt die Entwicklung der Philippinen selbst, weil er verhindert, dass sich eine stabile Mittelklasse bildet, die als gesellschaftliche Gruppe eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung initiieren und tragen könnte. Überdies führt die Arbeitsmigration zu einer Konzentration der unterqualifizierten Arbeitnehmer im Inland, die sich in einem Mangel an Fachkräften niederschlägt.
Dennoch zeigen sich auch gegenläufige Trends. So zählen Callcenter zu den weltweit besonders rasch wachsenden Wirtschaftssegmenten. Die Philippinen haben hier erhebliche Standortvorteile, u. a. geringe Betriebs- und Lohnkosten, zahlreiche junge, gute ausgebildete Arbeitskräfte und – nicht zuletzt auch dank der Migrationserfahrungen – die Vertrautheit mit dem amerikanischen Englisch. Dies eröffnet dem Land wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten. Es unterstützt beispielweise die Umschulung von temporären Migranten und Migrantinnen, die aufgrund wirtschaftlicher Krisen aus dem Ausland zurückkehren müssen, zu Callcenter-Agenten.