Überblick
Wissenschaftliche Darstellungen von sozialen und politischen Zusammenhängen haben vielfach damit zu kämpfen, dass ihr Untersuchungsgegenstand sinnlich nicht erfahrbar ist und deshalb vielen verschlossen bleibt. Mithilfe der kartografischen Sprache und mit den Möglichkeiten der modernen Computerkartografie ist es jedoch möglich, aus den Weltanschauungen eine plastische Landschaft zu formen und so einen sinnlichen Zugang zu einem im Grunde genommen eher abstrakten Phänomen zu eröffnen.
Politische Landschaften in der Schweiz
Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die Karte „Politische Landschaft“, die im Jahr 2003 von dem Politikwissenschaftler und Geografen Michael Hermann sowie dem inzwischen verstorbenen Sozialgeografen Heiri Leuthold erstellt wurde. Sie basiert auf der Analyse von 184 eidgenössischen Volksabstimmungen zwischen 1982 und 2002 (Quelle: gesammelte Ergebnisse der eidgenössischen Volksabstimmungen, Bundesamt für Statistik). Die Karte wurde im Rahmen des "Atlas der politischen Landschaften: Ein weltanschauliches Porträt der Schweiz" entworfen und bildet somit einen historischen Stand der politischen Landschaft der Schweiz ab.
Modellierungsprozess und Darstellung
Der Karte „Politische Landschaften in der Schweiz“ liegt ein mehrfacher Modellierungsprozess zugrunde: Als Grundlage für die Karte diente ein Scatterplot mit der Verteilung der 2 900 Schweizer Gemeinden im Raum der Weltanschauung. Der Punkt wird schliesslich durch ein Kreisscheibendiagramm mit den Informationen Einwohnerzahl (Grösse) und Sprache (Farbe; Blau für alle, die unter einem bestimmten Schwellenwert liegen) ersetzt. Aus den Eingangsgrössen (Einwohnerzahl und Sprache) wird ein Dichtegebirge berechnet; dieses zeigt die Bevölkerungsverteilung im Raum der Weltanschauung. Durch Schräglichtschummerung entsteht daraus ein Kartenrelief. Betrachtet man die Karte, erkennt man klar Gebirge und Höhenstufen. Die Höhe der Gebirge gibt Auskunft über die Anzahl Einwohner pro ausgewiesenen Ort. Je höher die „Gebirge“, desto mehr Menschen leben in einem Ort. Durch die Verschmelzung von Relief, Höhenstufen und Sprachzonen entstehen die politische Landschaft und damit der Hintergrund für die Karte.
Interpretation und Bedeutung der politischen Landschaft
Ein Ort, eine Stadt oder eine Region kommt ganz links im Raum zu liegen, wenn sie beispielsweise bei den Abstimmungen Erhöhung des Rentenalters (1998), 40-Stunden-Woche (1988), Soziale Krankenkasse (1994), Mutterschaftsversicherung (1984 und 1999), Atomausstieg (1990), Ziviler Friedensdienst (2001) oder Preisüberwachung (1982) eine überdurchschnittliche Zustimmung (bzw. Ablehnung) aufweist. Positioniert sie sich bei Modernisierungsfragen auf der konservativen Seite, dann liegt sie zugleich auch im unteren Teil der Karte. Gemessen wird das beispielsweise an der Zustimmung beziehungsweise Ablehnung der Vorlagen zur Integration der Schweiz in die Staatengemeinschaft (EU, UNO, Weltbank), an den Abstimmungen Erleichterte Einbürgerung junger Ausländer (1994), UNO-Blauhelme (1994), Parlamentsreform (1992), Antirassismusgesetz (1994), Gegen illegale Einwanderung (1996), Reform Alkoholverwaltung (1996), Fristenlösung (2002).
Soziale und räumliche Unterschiede
Es ist davon auszugehen, dass grosse Städte sich in ihrem mentalen Profil systematisch von ländlichen Dörfern, dass Oberschichtregionen sich von Arbeitersiedlungen, dass Tourismuszentren sich von der industriellen Peripherie usw. unterscheiden. Die sozial-räumliche Gliederung der Gesellschaft reicht jedoch zur Erklärung nicht aus. So sind sich etwa die Finanzzentren Genf und Zürich in dieser Hinsicht sehr ähnlich, und dennoch bestehen zwischen ihnen bei Volksabstimmungen häufig markante Unterschiede. Will man das weltanschauliche Profil einer Region einordnen und verstehen, muss gleichermassen die sozioökonomische Situation wie der historisch-kulturelle Hintergrund in Betracht gezogen werden. Es sind insbesondere zwei soziale Spannungsfelder, die der mentalen Topografie eines Landes wie der Schweiz zugrunde liegen: Das eine Spannungsfeld liegt zwischen Stadt und Land, das andere zwischen „besseren“ und „schlechteren“ Wohnstandorten.
Wirtschaftliche Einflussfaktoren und regionale Differenzen
Gegensätze im Abstimmungsverhalten sind jedoch auch von der ökonomischen Schwerpunktsetzung in einer Region abhängig. Wir können zum einen die Industrieregionen, welche einst gewichtige Pole der politischen Landschaft waren, und zum anderen die alpinen Tourismusregionen, die als atypische Lebenswelten im ländlichen Raum existieren, unterscheiden. Die Industrialisierung verlief in der Schweiz ausgesprochen dezentral. Fabriken wurden nicht nur in der Nähe von Städten und Verkehrsknotenpunkten gebaut, sondern auch in abgelegenen Gebieten wie dem Glarner Hinterland, dem Toggenburg oder im Jura. Trotz der kleinräumigen und dezentralen Entwicklung veränderte die Industrialisierung das politisch-mentale Gefüge des Landes. Die Ursache dafür liegt in der Organisation der industriellen Produktion. Diese erfolgte in kapitalintensiven Anlagen, zu deren Auslastung der regionale Arbeitsmarkt häufig nicht ausreichte, und es kam zur Zuwanderung von aussen. In den Arbeiterquartieren liessen sich Menschen verschiedener Konfession, Sprache und Nationalität nieder.