Überblick
Im Gegensatz zu Gesteinskarten und geologischen Karten bilden tektonische Karten (Atlas s. 20.3) nicht Art und Alter der vorkommenden Gesteine ab – also nicht «Granit», «Kalkstein» oder «Sandstein», und auch nicht «Jura», «Trias» oder «Perm» –, sondern deren Lage im tektonischen Gebäude eines bestimmten Gebietes und deren Zugehörigkeit zu grossräumigen tektonischen Einheiten. Gesteine in den Bergen bei Zermatt können beispielsweise früher einmal Teil der ozeanischen Kruste eines längst nicht mehr existierenden Ozeans oder gar Teil der Iberischen Halbinsel sowie Korsikas und Sardiniens gewesen sein.
Gelingt es, die tektonische Entstehung eines Gebietes zu verstehen und dessen tektonischen Aufbau
zeitlich rückwärts abzuwickeln, können einfache paläogeografische Karten gezeichnet werden, welche die Lage der tektonischen Einheiten und damit auch die Land-Meer-Verteilung in verschiedenen Zeitfenstern im Lauf der Erdgeschichte abbilden, im vorliegenden Fall um ca. 120 Mio. Jahre vor heute (Atlas s. 20.2).
Zur Darstellung des tektonischen Aufbaus der Lithosphäre sind neben Karten auch tektonische Profile hilfreich, die eine Kombination von Beobachtungen an der Oberfläche und seismischen Untersuchungen des Untergrundes darstellen. Stellvertretend dafür steht das Querprofil durch die östlichen Schweizer Alpen (Atlas s. 20.1). Wie ein Stapel gefalteter Wolldecken übereinander liegende tektonische Einheiten, die ein Gebirge aufbauen, werden als «Decken» bezeichnet und nach markanten Bergen, Tälern, Pässen oder Flüssen benannt, wie z. B. die Tambodecke nach dem Pizzo Tambo im Rheinwaldgebiet.
Der Begriff «Tektonik»
Der Begriff Tektonik ist abgleitet vom altgriechischen Wort τεκτονικό (tektonikós), «die Baukunst betreffend» und umfasst in den Erdwissenschaften den Aufbau der Erdkruste in verschiedenen Massstäben, von der Anordnung kontinentaler und ozeanischer Krustenbereiche im Grossen über die Anordnung verschiedener Einheiten innerhalb der kontinentalen Kruste – im Fall von Gebirgen «Decken» genannt – bis hin zu kleinräumigeren Strukturen wie Falten, Überschiebungen oder Störungszonen im Gestein. Auch Bewegungen in Kruste und Mantel, die zum heutigen tektonischen Aufbau der Lithosphäre geführt haben und diesen auch in der Zukunft weiterhin gestalten werden, sowie deren Erforschung werden unter dem Begriff der Tektonik erfasst.
Tektonische Detailkarten werden nur für Gebiete auf Kontinenten gezeichnet, da die Ozeane aus weitgehend eintöniger ozeanischer Kruste bestehen, die an der Oberfläche aus Basalt aufgebaut ist. Die kontinentale Kruste hingegen besteht aus unzähligen, teils komplex ineinander verschachtelten tektonischen Einheiten, die oft aus völlig unterschiedlichen Gebieten – sogenannten tektonischen Domänen – stammen, aus einer Vielzahl verschiedener Gesteine bestehen und im Lauf der Erdgeschichte durch vielfältige Prozesse in ihre heutige Lage bewegt wurden. Mithilfe tektonischer Karten und Profile können Rückschlüsse auf ebendiese Prozesse gezogen werden und es können die Bewegungen und Kräfte verstanden werden, die zur heutigen tektonischen Situation geführt haben. Dies kann mithilfe von tektonischen Profilen als stark vereinfachte «Momentaufnahmen» im Lauf der Erdgeschichte dargestellt werden (Abb. 1, siehe bei den Materialen zur Karte).
Bis zu einem gewissen Grad erlauben tektonische Karten und Profile auch Prognosen weit in die Zukunft, denn es wird davon ausgegangen, dass die Lithosphäre noch während der nächsten 200 Mio. Jahre in Bewegung sein wird.
Wie können tektonische Prozesse rekonstruiert werden?
Tektonische Einheiten bestehen aus Gesteinen, die nach verschiedenen Gesichtspunkten wie Alter, Spuren von Gesteinsdeformation (z. B. Falten oder Störungszonen) oder den Druck- und Temperaturbedingungen während ihrer Entstehung untersucht werden. Sedimentgesteine können aufgrund darin enthaltener Fossilien bestimmten Erdzeitaltern – z. B. Jura oder Trias – zugeteilt werden. Liegen ältere Sedimentgesteine auf jüngeren, lässt dies Rückschlüsse auf die Wirkung tektonischer Kräfte zu, die beispielsweise zu Überschiebungen oder Verfaltungen geführt haben.
Weisen Gesteine Spuren von Deformation auf, deutet dies darauf hin, dass sie verlagert worden sein
müssen. Eine sehr gut untersuchte Gesteinsverlagerung in den Alpen ist die sogenannte «Glarner Hauptüberschiebung» (Abb. 2, siehe bei den Materialen zur Karte), bei welcher während der Alpenbildung 260 bis 300 Mio. Jahre alte Gesteine bis zu 40 km weit in Nordrichtung über «nur» 35 bis 50 Mio. Jahre alte Gesteine geschoben wurden. Auch hier wird klar, dass dies nur durch massive tektonische Krafteinwirkung möglich war.
Schliesslich ist es mittels Exprimenten, Messungen und Berechnungen sogar möglich, die
Entstehungsbedingungen vieler Gesteine zu bestimmen. Wurde ein metamorphes Gestein etwa unter hohem Druck bei 25 kbar gebildet und liegt es heute an der Erdoberfläche, so muss es in einer Tiefe von annährend 90 km entstanden und durch tektonische Prozesse an die Erdoberfläche gelangt sein. Gelingt es mittels radiometrischer Datierung zusätzlich, das Entstehungsalter eines solchen Gesteins zu bestimmen, kann sogar abgeschätzt werden, mit welcher Geschwindigkeit es an die Erdoberfläche gehoben wurde.
Tektonischer Aufbau der Schweiz
Der heutige Untergrund der Schweiz war einst Teil mehrerer tektonischer Domänen. Sechs davon bestehen aus kontinentalem Sockel (sog. «kristallines Grundgebirge», bestehend aus sehr alten magmatischen und metamorphen Gesteinen) und darauf abgelagerten, jüngeren Sedimenten. Von Süd nach Nord sind dies: Süd- und Ostalpin als ehemalige Teile der Adriatischen Platte (die noch heute nördlich der Afrikanischen Platte liegt und z. B. Teile Italiens enthält), die Briançonnais Schwelle als langgezogene Halbinsel, verbunden mit der heutigen Iberischen Halbinsel, die isolierten Salassikum-Inseln sowie Lepontikum und Helvetikum als Teile der Eurasischen Platte. Im Lauf der Erdgeschichte waren die kontinentalen Sockel häufig von Meeren bedeckt, sodass sich vorwiegend marine Sedimente darauf ablagerten, die heute als Sedimentgesteine vorliegen.
Zwischen diesen kontinentalen Domänen lagen zwei marine Domänen, der Fefe Piemont-Ozean, der über ozeanische Kruste verfügte, die heute teils in den Alpen eingebaut ist, sowie das eher seichte Walliser Becken, das vermutlich nur eine wassergefüllte, trogartige Vertiefung in der kontinentalen Kruste war ohne nennenswerte ozeanische Kruste, aber mit mächtiger Sedimentfüllung.
Alle diese tektonischen Domänen wurden bei der Alpenbildung ab ca. 80 Mio. Jahren vor heute von Süden nach Norden wie ein Deckenstapel übereinander geschoben, wobei die nördlichen Domänen unter die südlichen geschoben wurden und damit im alpinen Deckenstapel zuunterst liegen. Zum Schluss der Alpenbildung wurden am Nordwestrand der Schweiz Plateau- und Faltenjura gebildet, indem die Sedimentschichten vom kristallinen Sockel abgeschert, von Süden gegen Schwarzwald und Vogesen gepresst und dabei deformiert wurden.
Unter Mittelland und Jura befinden sich verborgen unter jüngeren Sedimentgesteinen die sogenannten Permokarbontröge, die in den Erdzeiten Karbon und Perm durch Krustendehnung entstanden und mit Sedimenten aus jenen Zeiten gefüllt sind. Erst durch die Suche nach Standorten für die Endlagerung radioaktiver Abfälle wurde man auf diese riesigen Strukturen im Untergrund aufmerksam. Im Rheintal nördlich Basel und im Bodenseegebiet bildeten sich auch später, im Tertiär, nochmals Gräben, die heute ebenfalls unter jüngeren Sedimenten verborgen sind. Tektonische Bewegungen im Rheintalgraben gelten als Auslöser jenes schweren Erdbebens, das Basel im Jahr 1356 weitgehend zerstörte.
Nomenklatur im Fluss und seltsame Namen
Piemont-Ozean, Briançonnais-Schwelle und Walliser Becken werden traditionell unter dem Begriff Penninikum zusammengefasst. Dieser Begriff stammt aus einer Zeit, als noch vieles im Unklaren lag. Obwohl dies aus heuFger Sicht kaum mehr als sinnvoll erscheint, wird der Begriff noch immer verwendet. Das Lepontikum im Gegensatz dazu wurde als erst kürzlich als neue Domäne definiert, da die Decken im Tessin und im angrenzenden Norditalien früher mehrheitlich als Teil der Briançonnais-Schwelle betrachtet wurden, in jüngster Zeit von der Forschung jedoch eher der Eurasischen Platte zugerechnet werden.
Die etwas sonderbar klingenden Namen gewisser Einheiten beziehen sich auf alte Gebiets- oder Ortsnamen, wie die Penninischen Alpen oder die Stadt Briançon, auf Namen längst nicht mehr existierender Völker, die einst in diesen Gebieten lebten, wie z. B die keltischen Salasser. Diese Art der Namensgebung hat in der Geologie Tradition.
Aufbau von Karte und Legende
Der tektonische Aufbau der Schweiz wird in der tektonischen Karte und im Profil sichtbar. Von Süden nach Norden folgen Südalpin, Salassikum Penninikum, Lepontikum und Helvetikum aufeinander, wobei Salassikum und Penninikum auf die westlichen Alpen beschränkt sind, die Briançonnais-Halbinsel und die Salassikum-Inseln reichten offenbar nicht weiter ostwärts. Dazwischen eingeklemmt finden sich Überreste des Piemont-Ozeans und des Walliser Beckens. Das Ostalpin spielt eine etwas andere Rolle, es war schon einmal Teil einer älteren Gebirgsbildung östlich der Alpen (vor ca. 85 Mio. J.) und wurde von Osten her über die anderen Einheiten überschoben. Es bedeckt beinahe die ganzen Alpen Österreichs, dürfte aber kaum weiter westwärts überschoben worden sein als bis in den Kanton Graubünden.
Die Legende ist in präalpine und syn- bzw. postalpine Einheiten eingeteilt. Bei den präalpinen Einheiten folgt sie den tektonischen Domänen, die bereits vor der Alpenbildung existierten, wobei jeweils zwischen dem kristallinen Grundgebirge und darauf abgelagerten Sedimentgesteinen unterschieden wird, ohne auf deren Art einzugehen. Syn- und postalpine Einheiten entstanden erst während oder nach der Alpenbildung. Flysche z. B. sind feinkörnige, tonig-sandige Ablagerungen, die während der Alpenbildung an den besonders erdbebengefährdeten Überschiebungsfronten der Decken lawinenartig in tiefem Wasser abgelagert wurden. Sie wurden von den nordwärts sich bewegenden Decken «überfahren» und bildeten wichtige Gleithorizonte für deren Überschiebung, da sie leicht verformbar sind.
Während der Alpenbildung intrudierten auch kleinere Plutone, ein Beispiel dafür befindet sich im Bergell. Schliesslich ist der Alpenbau von vielen Brüchen und Störungszonen durchzogen, die teils noch aktiv sind. Die wichtigsten davon ist die Periadriatische Störungszone mit einem Horizontalversatz von 50- bis 100 km und einem ebenso beeindruckenden Vertikalversatz, wobei sich im Tessin die nördliche Seite gegenüber der Südlichen um ca. 20 km hob.