Schweiz - Wirtschaft im 19. Jahrhundert

Schweiz - Industrialisierung
978-3-14-100919-4 | Seite 32 | Abb. 1| Massstab 1 : 2000000

Überblick

Innert eines Jahrhunderts hat sich die Bevölkerung der Schweiz praktisch verdoppelt von 1,6 Mio. (1798) auf über 3 Mio.  Einwohner (1900). Die Bevölkerungsdichte betrug am Ende des 19. Jahrhunderts rund 80 Einw./km2 (Vergleich 2015: 202 Einw./km2). Demografische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Faktoren ermöglichten dieses starke Wachstum. Neben der Industrialisierung und der allmählich zunehmenden Bedeutung des Dienstleistungssektors spielte auch die Niederlassungsfreiheit eine grosse Rolle. Sie förderte die Wanderungsbewegungen innerhalb der Schweiz. Dies führte zu regional sehr unterschiedlichen Bevölkerungsveränderungen. Insbesondere in den Berggebieten ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Abwanderung festzustellen, die ihre Ursachen unter anderem in der Industrialisierung hatte (Verlagerung der energieintensiven Produktion in die Täler und ins Mittelland). Eine Agrarkrise Ende des 19. Jahrhunderts verstärkte die Abwanderung aus den ländlichen Regionen zusätzlich. Viele Schweizer suchten der Armut durch Auswanderung, insbesondere nach Übersee, zu entkommen; noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Schweiz ein klassisches Auswanderungsland. Demgegenüber wuchs die Bevölkerung vieler Städte im Zeitalter der Industrialisierung stark an. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert verzeichneten Zürich und Basel bereits über 100 000 Einwohner. Genf, Bern und St. Gallen hatten die Marke von 50 000 Einwohnern überschritten. Trotzdem kann nicht von einer ausgeprägten Verstädterung der Schweiz gesprochen werden, denn der überwiegende Teil der Bevölkerung lebte noch immer im ländlichen Siedlungsraum.

Landwirtschaft:

Das 19. Jahrhundert war für die Schweizer Landwirtschaft eine Zeit grosser Umbrüche. Die einsetzende Mechanisierung sowie verschiedene Verbesserungen, beispielsweise bei der Fruchtwechselwirtschaft, führten zu Ertrags- und Produktivitätssteigerungen. Auch mit verschiedenen ­Ameliorationsmassnahmen wurde die Produktivität der Landwirtschaft erhöht. Die landschaftlich prägendsten und auf dem Kartenbild gut sichtbaren Eingriffe waren die Gewässerkorrektionen, welche durch Begradigungen von Flüssen und Trockenlegung von Sumpfgebieten neues Kulturland schufen. Als grösste Projekte gelten die Linthkorrektion 1807 – 1823 (Umleitung der Linth in den Walensee und durch den Linthkanal in den Zürichsee) und die Juragewässerkorrektion 1868 – 1891 (Umleitung der Aare in den Bielersee und leistungsfähigere Verbindungen zwischen Bieler-, Neuenburger- und Murtensee).
Die Vieh- und Milchwirtschaft breitete sich im 19. Jahrhundert im Voralpengebiet, aber auch im Berggebiet aus. Die wohl grösste Veränderung vollzog sich aber im Mittelland, wo vor dem ­Hintergrund der Entwicklungen im Weltagrarmarkt (z. B. sinkende Getreidepreise) allmählich die Vieh- und Milchwirtschaft auf Kosten des Getreideanbaus Bedeutung erlangte. Die in der Karte eingezeichneten Viehmärkte sind Ausdruck dieses Wandels. Mit der Ausbreitung der Vieh- und Milchwirtschaft wurden nun auch im Mittelland Käsereien errichtet, was zuvor nur im Berggebiet möglich war. Daneben entwickelte sich eine milchverarbeitende Industrie (unter anderem zur Schokoladenherstellung), die dank der wachsenden Bevölkerung und den Exporten auf einen sicheren Absatz zählen konnte. Entsprechend verzeichnete der Ackerbau einen starken Rückgang: Die für den Getreideanbau genutzten Flächen wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahezu halbiert. Der Obst- und Gemüsebau dagegen gewann an Bedeutung als Versorger der Städte und der aufkommenden Konservenindustrie. Die Schweizer Landwirtschaft entwickelte sich somit gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem von der Milchwirtschaft dominierten Wirtschaftszweig, der stark mit den schweizerischen und ausländischen Märkten sowie der verarbeitenden Industrie verknüpft war.

Bergbau:

Die Schweiz weist viele verschiedene Bodenschätze auf. Deren Ausbeutung versprach jedoch an den meisten Lagerstätten infolge tektonischer Störungen, schwerer Zugänglichkeit oder der geringen Qualität und Quantität der Vorkommen nur wenig Erfolg. Dennoch konnte der Bergbau lokal von einiger Bedeutung sein, so beispielsweise die
Gewinnung von Eisenerz im Jura. Die meisten Bergwerke gewannen Rohstoffe für Betriebe in ihrer unmittelbaren Umgebung, nur wenige belieferten einen grösseren, überregionalen Markt. Ein Beispiel dafür waren die Salzbergwerke in Bex. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Steinkohle zur Hauptenergiequelle der Schweiz. Sie löste damit die Holzkohle und das Holz ab. Entsprechend zahlreich waren die Abbauorte für Kohle. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zählte man insgesamt rund 350 Eröffnungen von Förderbetrieben für Steinkohle, Braunkohle oder Anthrazit, die meisten davon in den Kantonen Zürich, Waadt und Wallis. Oft waren die Stollen und Schächte nur wenige Jahre in Betrieb und wurden dann wegen der geringen Ergiebigkeit wieder aufgegeben. Der Bau der Eisenbahnen stellte für viele Bergwerke das Ende dar, konnten doch fortan grosse Mengen Rohstoffe wie Kohle oder Erz relativ günstig aus weiter Entfernung angeliefert werden. Für einige wenige Minen, beispielsweise die Asphaltminen, war das neue Transportmittel aber auch von Vorteil, da sie ihre Erzeugnisse nun über weitere Distanzen exportieren konnten.

Industrie und Gewerbe:

Die Industrialisierung setzte in der Schweiz relativ früh ein. Dies ist unter anderem auf die exportorientierte Baumwollindustrie zurückzuführen, die schon zu Beginn des 19.  Jahrhunderts die industrielle Produktionsweise einführte. So wurden bereits 1801 in St. Gallen, das seit langem ein Zentrum der Leinwandproduktion war, die ersten Spinnmaschinen nach englischer Art installiert. Diese lösten schon bald darauf die traditionelle handwerkliche Produktion ab. Es folgte eine starke regionale Spezialisierung, die zur Erhaltung traditioneller Gewerbe wie der Stickerei in St. Gallen oder des Baumwolldrucks in Glarus beitrug. Die Textilindustrie war aber auch Auslöser für den Aufschwung anderer Industriezweige. So entwickelte sich die chemische Industrie in Basel aus der Herstellung von Farbstoffen für die Textilindustrie. Auch die Entstehung zahlreicher Maschinenfabriken ist im Zusammenhang mit der Textilindustrie zu sehen; die ersten Spinnereimaschinen, Webstühle und Stickmaschinen wurden hauptsächlich in Fabriken im Raum Zürich und in der Ostschweiz hergestellt. Neben der Produktion von Wasserrädern für Textilfabriken spezialisierten sich einige Betriebe zunehmend auf Turbinen und Dampfmaschinen und lösten sich damit allmählich von der konjunkturabhängigen Textilindustrie.
Die Standorte der Eisen- und Stahlindustrie waren zunächst stark an die Rohstoffvorkommen gebunden. Bedeutende Eisenerzvorkommen gab es unter anderem im Jura (Region Delsberg) und im Wallis. Zur Verhüttung waren grosse Mengen Holz nötig (Verkohlung), was teilweise zur grossflächigen Abholzung des Waldes führte. Mit der Zeit entstanden auch Giessereien, die keine eigene Verhüttung besassen und deren Standort daher von den Eisenerzvorkommen unabhängig waren, so beispielsweise in Schaffhausen oder Winterthur. Die Eisen- und Stahlindustrie diente zu einem grossen Teil als Zulieferer der Maschinenindustrie.
Die Uhrenindustrie verbreitete sich von Genf ausgehend zunächst im Waadtländer und später im Neuenburger Jura, wo es im Gegensatz zu Genf keine Zünfte gab und dadurch die Produktions- und Handelsfreiheit gewährleistet war. Gegen Ende des 19.  Jahrhunderts wurden dann fast im gesamten Jurabogen Uhren hergestellt, neue Zentren waren insbesondere in den Kantonen Bern (Juratäler, Freiberge und Biel) und Solothurn entstanden.

Verkehrswege:

Bereits im 18. Jahrhundert begann der Staat Bern mit grossen Strassenbauprojekten. Sogenannte Chausseen oder Kunststrassen wurden systematisch durch das ganze Territorium gebaut. Diese befestigten Strassen mit vielen Kunstbauten lösten die vorherigen, oft schlecht ausgebauten Routen ab. Das Ziel bestand unter anderem darin, die Steigungen zu minimieren, damit der Verkehr mit grossen Fuhrwerken und ohne den Vorspann zusätzlicher Zugtiere möglich war. Auch andere Orte der Eidgenossenschaft erstellten allmählich solche für die damalige Zeit moderne Strassen, und ab 1830 setzte dann in der ganzen heutigen Schweiz ein Boom des Kunststrassenbaus ein. Neben den Gebieten im Mittelland und im Jura erhielten auch einige bedeutende Alpenübergänge neue Fahrstrassen, so beispielsweise die Passübergänge am Simplon, San Bernardino, Splügen, St. Gotthard und Julier.
Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts zeichnete sich in der Schweiz, verhältnismässig spät im europäischen Vergleich, ein verkehrstechnischer Umbruch ab: Die ersten Eisenbahnen wurden gebaut und damit neue Voraussetzungen geschaffen für die Entwicklung der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Die erste Bahnlinie erreichte von Strassburg her 1844 die Schweiz in Basel. Treibende Kräfte des frühen Eisenbahnbaus waren Industrielle, Unternehmer und Bankiers. Bereits 1870 war das Hauptnetz im Mittelland und in einigen Alpentälern erstellt. Die ersten Bahnen fuhren fortan von Basel und Schaffhausen ins Mittelland, nach Thun, Luzern und Chur, durchs St. Galler Rheintal, vom Bodensee zum Genfersee und von dort weiter ins Wallis. Schon bald kämpften die Schweizer Bahngesellschaften sowie die Nachbarstaaten Deutschland, Frankreich und Italien um eine Alpenbahn, die vor dem Hintergrund der bereits bestehenden Mont-Cenis-Bahn im Westen und der Brennerbahn im Osten der Schweiz eine möglichst kurze Nord-Süd-Verbindung anbieten sollte. Das Rennen machte schliesslich die Gotthardbahn, die 1882 eröffnet wurde. Die Eisenbahnen stellten einen wichtigen Teil im Räderwerk des landwirtschaftlichen Strukturwandels, der Industrialisierung und der Verstädterung dar, unter anderem aufgrund der nun vergrösserten Kapazitäten und der günstigeren Transporte.
Auf der Karte nicht ersichtlich, aber dennoch von grosser Bedeutung im schweizerischen Verkehrssystem des 19. Jahrhunderts waren die Dampfschiffe, die auf dem Genfer-, Neuenburger-, Thuner-, Vierwaldstätter- und Bodensee verkehrten. Sie machten bereits ab den 1820er Jahren den Wasserverkehr schneller und effizienter.

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