Überblick
Seit Jahrzehnten verfolgen die Anrainerstaaten von Nord- und Ostsee Maßnahmen zur Erhaltung der marinen Lebensräume und ihrer Artenvielfalt. Sie versuchen insbesondere, die Schadstoffzufuhr zu vermindern und Nutzungsansprüche auszugleichen. Dass trotz einiger Teilerfolge die Ergebnisse dieser Bemühungen die Erwartungen von Umweltschützern oft enttäuschen und viele Umweltprobleme seit Jahrzehnten fast unvermindert fortbestehen, wird zwar auch durch die besonderen naturräumlichen Bedingungen beeinflusst, ist aber vor allem dem Umstand geschuldet, dass viele Maßnahmen, obwohl sachlich unstrittig, gegen kurzfristige politische und wirtschaftliche Interessen durchgesetzt werden müssen. Gegenwärtig ruhen viele Hoffnungen auf der 2008 in Kraft getretenen europäischen Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL), die für den Schutz der europäischen Meere ambitionierte Ziele formuliert.
Besonders sensible Ökosysteme
Nord- und Ostsee sind zwei kleine, besonders flache Randmeere des Atlantiks. Als solche sind sie bevorzugte „Kinderstuben“ und Lebensräume einiger Kleinwale, vieler Fischarten und diverser anderer Meeresbewohner, allerdings sind sie aufgrund ihrer geringen Tiefe auch besonders anfällig für Störungen ihres ökologischen Gleichgewichts. Ein vollständiger Wasseraustausch benötigt in der Nordsee bis zu drei Jahre, in der Ostsee sogar deutlich länger, weil sich ihr Wasser kaum durch den Zufluss aus anderen Meeren erneuern kann. Deshalb sind Schadstoffeinträge in Nord- und Ostsee besonders verhängnisvoll, auch nach Ablagerung in Sedimenten bleiben sie eine Gefahrenquelle.
Beide Meere sind einer Vielzahl von Umweltbelastungen ausgesetzt. Zu unterscheiden ist dabei die direkte Verschmutzung des Meeres, sei es durch Abwasser- und Schadstoffeinleitung, durch Schifffahrt und Schiffsunglücke oder durch Verschmutzung in Erdölfördergebieten, und die indirekte Verschmutzung über Flüsse wie Memel, Weichsel, Elbe, Rhein und Themse, die durch landwirtschaftlich intensiv genutzte Gebiete fließen und dabei auch eine Vielzahl von Industriehäfen und städtischen Agglomerationen passieren.
Die wichtigsten Schadstoffe
Trotz internationaler Abkommen über die Verringerung des Eintrags gesundheitsschädlicher Stoffe in Nord- und Ostsee dienen beide Meere bis heute der kostenlosen Müll- und Schadstoffentsorgung. Eines der größten Probleme ist der Eintrag von Nährstoffen wie Nitraten und Sulfaten, die vor allem aus der landwirtschaftlichen Düngung stammen. Sie sind bis heute im Überfluss im Meerwasser vorhanden und gelten als Hauptverursacher für die Massenentwicklung von Planktonalgen, die zu Algenblüten führen. Beim biologischen Abbau dieser Überpopulationen werden so große Mengen Sauerstoff verbraucht, dass viele Tiefseeregionen der Ostsee heute nach übereinstimmendem Expertenurteil im ökologischen Sinne tot sind. Auch in den stoffwechselaktiven Randbereichen kann Sauerstoffmangel zu einem Massensterben von Fischen, Krebsen und anderen Meerestieren führen. Sichtbares Zeichen für eine Algenüberpopulation ist die Schaumbildung an den Stränden.
Eine zweite große Gefahr geht von Schwermetallen und Kohlenwasserstoffen aus. Beide Stoffgruppen sind nicht gut abbaubar und werden entweder sedimentiert oder über die Nahrungskette in den Meeresorganismen angereichert. Dabei wird von Stufe zu Stufe der Nahrungskette eine höhere Konzentration erreicht. Schwermetalle sind Zellgifte und stören wie auch die Kohlenwasserstoffe den Stoffwechsel und die Zellteilung.
Ein weiteres Problem ist die Meeresverschmutzung durch Öl, das teilweise von Ölplattformen, aber auch von Tankerunfällen oder – als Verbrennungsrückstand – aus dem Schiffsbetrieb stammt. Öl verhindert durch Bildung eines Oberflächenfilms den Austausch von Gasen und zerstört durch Sedimentation des Bitumenanteils das Bodenleben, vor allem in den belichteten und daher besonders produktiven Flachwassergebieten. Bei See- und Zugvögeln verklebt Öl das Gefieder und hebt damit die Isolationswirkung gegen Kälte auf. Wenn es in den Verdauungstrakt gelangt, wirkt es toxisch.
Überfischung und Lebensraumzerstörung
Ein weiteres drängendes Problem ist der industrialisierte Fischfang, durch den in den letzten Jahrzehnten die Bestände vieler Arten massiv eingebrochen sind. Obwohl einige Arten wie der Kabeljau nach übereinstimmendem Expertenurteil akut bedroht sind, ist es bislang nicht gelungen, die Fangquoten in einem ausreichenden Maße bzw. lange genug zu senken, um eine nachhaltige Erholung des Bestandes sicherzustellen. Hinzu kommt, dass große Mengen an Jungfischen und wirtschaftlich unrentablen Meeresbewohnern, die dennoch für das Ökosystem von großer Bedeutung sind, als „Beifang“ in die Netze geraten und verenden. Kaum weniger gravierend ist die Habitatzerstörung durch die Schleppnetzfischerei, die die Lebensräume bodenlebender Arten nahezu flächendeckend verwüstet.
Weniger sichtbar, aber nichtsdestotrotz von erheblicher Bedeutung ist die allgemeine Beeinträchtigung des Lebensraums, unter der vor allem höher entwickelte Tiere, namentlich Vögel, Fische und Meeressäuger, leiden. Die intensive Schifffahrt, der Abbau von Rohstoffen, zahllose Kabeltrassen und in jüngster Zeit zunehmend auch die boomenden Offshore-Windkraftanlagen üben auf die Tiere der Nord- und Ostsee durch Unterwasserlärm, Vibration, elektromagnetische Felder und permanente Unruhe eine enorme Scheuchwirkung aus. Diese Faktoren können überdies die Orientierungsfähigkeit von Meeressäugern stark beeinträchtigen.