Entwicklungsmodell der lateinamerikanischen Stadt
Überblick
Dem Entwicklungsmodell der lateinamerikanischen Stadt liegt eine zeitliche Gliederung in wesentliche Phasen der Stadtentwicklung mit einheitlichen Faktoren und Prozessen der Stadtentstehung zugrunde.
Die Kolonialstadt zeigt die typische quadratische Grundform, nach dem diese Städte ab dem 16. Jahrhundert planmäßig angelegt wurden. Die Straßen verlaufen rechtwinklig zueinander und erzeugen eine Art Schachbrettmuster aus quadratischen oder rechteckigen Baublöcken. Im Zentrum der Stadt befindet sich meist ein großer zentraler Platz (Plaza Mayor), dessen Erscheinungsbild von der Hauptkirche bestimmt wird. Von diesem Platz gehen die Hauptstraßen aus, an denen die öffentlichen und kirchlichen Einrichtungen liegen. Die Wohnviertel der Oberschicht – oft in Form von Villen – liegen in einem Ring um die Plaza Mayor. Daran schließen sich in weiteren Ringen die Wohngebiete der Mittel- und Unterschicht an.
In Abhängigkeit von den natürlichen Gegebenheiten (Küste, Flussmündung, Gebirge) wurde die Grundform der lateinamerikanischen kolonialen Stadt nach Bedarf modifiziert. Die wesentlichen Gliederungs- und Gestaltungsmerkmale der Stadt zu dieser Zeit wurden von den portugiesischen bzw. spanischen Machthabern bestimmt und folgten deren Bedürfnissen.
Ab dem 19. Jahrhundert setzt mit der Industrialisierung eine Phase starken Wachstums ein, die das Bild der Stadt deutlich verändert (Stadt am Ende der 1. Verstädterungsphase). Die ursprünglich ringähnlichen Strukturen der kolonialen Stadt werden von sektoralen Mustern abgelöst. Die Stadtentwicklung wird im Wesentlichen von den Ansprüchen der neu entstehenden Gewerbestandorte, den Gunsteffekten der großen Verkehrsachsen (Straßen, Eisenbahnlinien) sowie vom Wohnstandortverhalten der statushohen Bevölkerung bestimmt. Dies führt zu einer Überformung der kolonialen Stadt, von der vor allem das historische Stadtzentrum als ausgeweitetes Geschäftszentrum erhalten bleibt. Die restliche Stadt wird in homogene Streifen, Bänder und Sektoren gegliedert. Industrie- und Gewerbegebiete breiten sich entlang der Verkehrswege aus.
Das Verhalten der statushohen Bevölkerung ist entscheidend bei den Veränderungsprozessen der Wohnstandorte. Sie behält in dieser Phase der Stadtentwicklung ihre traditionellen Wohnviertel bei, erweitert sie meist aber dank ihrer finanziellen Mittel in einer bestimmten, attraktiv erscheinenden Richtung. Die Wohngebiete der Unterschicht liegen in der kolonialen Stadt peripher. Neu ist in dieser Phase die Entstehung eines Marginalviertels in Zentrumsnähe.
Die Stadt am Ende der 2. Verstädterungsphase um 1970 weist wie die Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine sektorale Grundstruktur auf, allerdings räumlich erweitert durch starkes Flächenwachstum. Eine bevorzugte Entwicklungsachse ergibt sich in Richtung des Flughafens. In den Vierteln der kaufkraftstarken Oberschicht entstehen Einkaufs- und Freizeitzentren.
Im Unterschied zur Phase davor ist aber die Peripherie der Stadt von dezentral verteilten Marginalvierteln und Standorten sozialen Wohnungsbaus überzogen.
Der Stadtraum der Gegenwart ist auf das Auto ausgerichtet. Verkehrs- und Einzelhandelsstrukturen sowie die zugangsbeschränkten Wohnkomplexe prägen sein Bild. Letztere liegen in fast allen Teilen der Stadt, auch in Unterschichtvierteln. Die Stadtstrukturen der vorigen Phase sind noch klar erkennbar, allerdings führt das Flächenwachstum dazu, dass auch die Bereiche zwischen den Sektoren bebaut werden, die an den traditionellen Verkehrsachsen liegen. Neue Gewerbestandorte entstehen vor allem in peripherer Lage. Entscheidend sind dabei häufig die Verfügbarkeit von ausreichend großen Freiflächen und die Verkehrslage.
Die Marginalviertel weisen in der Gegenwart eine hohe Dynamik auf. Erschließungs- und Stadtentwicklungsprogramme sorgen einerseits für eine Konsolidierung solcher Viertel, was mit einer Verbesserung der Lebensbedingungen einhergeht. Andererseits entstehen aufgrund des hohen Zuzugs immer neue Marginalviertel.
Die Stadt der Gegenwart ist damit durch eine Reihe von sich ständig verändernden und wachsenden Kernen und Teilräumen gekennzeichnet. Es entstehen Nebenzentren mit Büros und Geschäften am Stadtrand sowie funktionale Cluster unterschiedlicher, miteinander in Beziehung stehender Nutzungen. Insbesondere hinsichtlich des Wohnens zeigen sich erkennbar Züge der fragmentierten Stadt.