EU/EWR - Regionale Entwicklungsunterschiede

Europa - Zusammenschlüsse und Kooperationen
978-3-14-100900-2 | Seite 107 | Abb. 5| Maßstab 1 : 36000000

Überblick

Im internationalen Vergleich ist der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) plus Schweiz und Liechtenstein wirtschaftsstark und wohlhabend. Jedoch zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Teilräumen und Regionen. Die Karte zeigt eine Möglichkeit der Messung und Klassifizierung dieser regionalen Disparitäten. Die abgebildeten zehn Typen von Regionen repräsentieren Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die sektorale Struktur der Wirtschaftstätigkeit, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die Arbeitslosigkeit, das Bildungsniveau und die Altersstruktur der Bevölkerung sowie die Bevölkerungsentwicklung. Die Karte verdeutlicht somit ungleiche sozioökonomische und demographische Entwicklungsmuster auf einer subnationalen Ebene.

Zur Methode der Clusteranalyse

Methodisch betrachtet ist die vorliegende Typisierung von Regionen des EWR das Ergebnis einer hierarchischen Clusteranalyse nach Ward. Clusteranalytische Verfahren ermöglichen, eine große Zahl an Untersuchungsobjekten (hier die Regionen des EWR) über mehrere Merkmale hinweg auf ähnliche Merkmalsausprägungen hin zu untersuchen und in möglichst homogene Gruppen, die sogenannten Cluster, zusammenzufassen. Als Sortierungs- bzw. Zuordnungsstrategie wird das jeweilige spezifische Profil an Merkmalsausprägungen für jede Region mit jenen Regionsprofilen zusammengeführt, die ihm am ähnlichsten sind und es von denen zu trennen, die ihm am unähnlichsten sind. Dabei wird versucht, den Informationsverlust so gering wie möglich zu halten. Als Vorbereitung werden alle Werte eines Indikators standardisiert, sodass der Durchschnitt aller Regionen 0 und die Standardabweichungen der Verteilung 1 bzw. -1 betragen. Anschließend wird die hierarchische Clusterung mathematisch-statistisch anhand von drei Schritten umgesetzt. Zunächst wird die (Un-)Ähnlichkeit der untersuchten Regionen anhand der Summe der quadrierten euklidischen Distanz ihrer Indikatorenwerte bestimmt. Je geringer der errechnete Distanzwert zwischen zwei Regionen ausfällt, desto ähnlicher sind sie sich, je größer der Wert, desto unähnlicher. Darauffolgend werden sukzessive die jeweils ähnlichsten Regionen zu Clustern zusammengefasst. Im dritten Schritt muss die Schwelle bestimmt werden, an der diese Zusammenfassung abgebrochen werden soll, sodass die Zusammenführung der Regionen noch weitgehend in sich homogene Cluster garantiert, die Clusteranzahl aber zugleich schon inhaltlich interpretierbar und grafisch darstellbar bleibt.

Ergebnisse der Analyse

Vor dem Hintergrund der durchgeführten Clusteranalyse lassen sich für die 119 NUTS-1 bzw. NUTS-2-Regionen des EWR zehn unterschiedliche regionale Entwicklungstypen herausstellen.

Die verbindenden Merkmale des Clusters 1 sind eine ausgeprägte Dienstleistungsorientierung und ein hohes Pro-Kopf-BIP, das sehr deutlich über dem europäischen Durchschnitt liegt, während die Arbeitslosenquote vergleichsweise niedrig ist. Die Bevölkerungsentwicklung verläuft noch positiver als in den wirtschafsstrukturell nicht unähnlichen Clustern 2 und 3. Zudem sind die Regionen des Clusters 1 von einem hohen Anteil von Menschen im erwerbsfähigen Alter geprägt – eine Folge der hohen Zuwanderungsüberschüsse. Diese Gruppe von Regionen ist aber insofern ein Sonderfall, als dass sie lediglich Kleinstaaten mit einem starken Zuzug aus den Nachbarstaaten oder großräumigerer Zuwanderung umfasst (Luxemburg, Liechtenstein, Malta).

Cluster 2 umfasst von einer ausgesprochenen Dienstleistungsökonomie geprägte, überwiegend stark urbanisierte Regionen, die eine gut ausgebildete Bevölkerung aufweisen, welche eine überdurchschnittliche Pro-Kopf-Wertschöpfung erwirtschaftet und relativ wenig von Arbeitslosigkeit betroffen ist. Zudem ist die Bevölkerung relativ jung und erreicht überdurchschnittlich hohe natürliche Wachstumsraten. Typische Beispiele für solche Regionen finden sich vor allem in Belgien, den westlichen Niederlanden, Skandinavien und der Schweiz, aber vereinzelt auch im östlichen und südöstlichen Europa (z. B. Großräume Prag, Bratislava, Budapest). In Deutschland gehören die Metropolen und Stadtstaaten Berlin und Hamburg zu diesem Cluster.

Cluster 3 umfasst ebenfalls stark von der Dienstleistungsökonomie geprägte, wirtschaftlich sehr dynamische Regionen, die sowohl große Metropolen (Großräume Brüssel und Paris) als auch Gebiete mit unterschiedlichen Stadtgrößen umfasst (Großraum Dublin, aber z. B. auch Island). Prägend sind für alle diese Regionen neben der starken Tertiärisierung ein deutlich überdurchschnittliches Bildungsniveau sowie eine überdurchschnittlich positive Bevölkerungsentwicklung (v. a. in Bezug auf das natürliche Saldo). Obwohl die Wirtschaftsleistung pro Kopf hoch ist, bewegt sich die Arbeitslosenquote „nur“ in der Nähe des europäischen Durchschnitts.

Cluster 4 ist dadurch geprägt, dass er ausschließlich relativ wirtschaftsstarke Regionen in Mitteleuropa zwischen den östlichen Niederlanden und dem westlichen Österreich umfasst und einen räumlich sehr zusammenhängenden Zuschnitt aufweist. Auch die Mehrzahl der deutschen Regionen der alten Bundesrepublik gehört zu diesem Cluster. Verbindende Merkmale sind ein noch beachtlicher Anteil der Industrie in der Wirtschafts- und Erwerbsstruktur, ein durchweg überdurchschnittliches BIP pro Kopf und eine unterdurchschnittliche Arbeitslosenquote. Gleichwohl liegt die Bevölkerungsentwicklung nur im europäischen Durchschnitt und es zeigen sich bereits deutlich die Merkmale des demographischen Alterns.

Strukturell nicht ganz unähnlich sind die Regionen des Clusters 5, wobei hier allerdings die wirtschaftliche Dynamik geringer und das demographische Altern bereits deutlich weiter vorangeschritten ist. Dies weist auf anhaltende Probleme im wirtschaftlichen Strukturwandel hin. Folglich wird dieses Cluster vor allem von Regionen in Ostdeutschland (aber auch dem Saarland und Schleswig-Holstein) sowie den industriell geprägten Regionen im Norden Italiens geprägt. Aber auch große Teile Portugals (aber nicht der Großraum Lissabon) gehören zu diesem Typ.

Das Cluster 6 wird vor allem von französischen Regionen bestimmt. Kennzeichnend sind für die Regionen dieses Typs eine überdurchschnittlich positive Bevölkerungsentwicklung, relativ viele junge Menschen in der Population sowie ein leichter Dienstleistungsschwerpunkt. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit liegt aber unter dem EWR-Durchschnitt, was sich auch in einer relativ hohen Arbeitslosigkeit niederschlägt. Außer großen Teilen Frankreichs zählen zu diesem Cluster auch der Großraum Lissabon sowie Süd- und Nordschweden.

Die Regionen des Clusters 7 weisen bei allen Indikatoren nur geringfügige Abweichungen vom EWR-Durchschnitt auf, haben aber trotz einer guten Ausbildung der Erwerbsbevölkerung eine etwas unterdurchschnittliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Verbindende Merkmale sind zudem der deutliche Rückgang der Bevölkerungszahl sowie eine beginnende Überalterung der Bevölkerung. Regionen dieses Typs finden sich vor allem in Nordosteuropa, vereinzelt aber auch in anderen Teilen Europas mit teilweise ganz unterschiedlicher Geschichte (z. B. Nordost-Spanien, Slowenien, südliches Rumänien, südliches Bulgarien).

Eine deutlich andere Struktur als die Regionen der bisher diskutierten Cluster besitzen die Regionen des Clusters 8. Zu diesem Typ gehören eher wenig urbanisierte und vor allem wirtschaftsschwache Regionen mit einem überdurchschnittlichen Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft und im industriellen Sektor sowie einer deutlich negativen Bevölkerungsentwicklung. Diese insgesamt benachteiligten Regionen weisen nach wie vor erhebliche Transformations- und Strukturwandelprobleme auf und liegen in Ost- und Südosteuropa.

Das zentrale Merkmal der Regionen im Cluster 9 ist die hohe, weit über dem EWR-Durchschnitt liegende Arbeitslosenquote, die mit einer ausgeprägten industriellen Schwäche verbunden ist. Bei fast allen anderen Indikatoren bewegen sich die Regionen dieses Typs in der Nähe des EWR-Durchschnitts, wobei allerdings das erwirtschaftete BIP pro Kopf unterdurchschnittlich ist, während das demographische Altern und seine Folgen (negative natürliche Bevölkerungsentwicklung) deutlich erkennbar sind. Das Cluster umfasst vor allem Regionen im Süden Europas, die sich noch immer nicht vollständig von den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2007 und 2008 erholt haben (große Teile Spaniens und Griechenlands, Süditalien).

Wie das Cluster 9 weist auch das Cluster 10 ein dominantes Merkmal auf. Hier ist es die besonders stark von der Industrie geprägte Wirtschaftsstruktur, die mit geringen Anteilen tertiärer Bildung der Bevölkerung und vor allem einer deutlich unterdurchschnittlichen Wertschöpfung einhergeht. Auch die Dynamik der Bevölkerungsentwicklung liegt unter dem EWR-Durchschnitt, während sich die Arbeitslosenquote um den Durchschnitt bewegt. Zu diesem Typ gehören vor allem industriell geprägte Regionen in Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn (aber jeweils ohne die entsprechenden Hauptstadtregionen).

Wie bei allen Typenbildungen ist auch bei der vorliegenden Charakterisierung der EWR-Regionen zu beachten, dass das Ziel die Hervorhebung allgemeiner Trends ist. Die individuelle Situation in den einzelnen Regionen kann davon (leicht) abweichen.

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Diercke

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EU/EWR - Regionale Entwicklungsunterschiede
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