Überblick
Die Zunahme von Extremwetterereignissen, steigende Meeresspiegel und die Verschiebung der Verbreitungsgrenzen von Organismen sind einige der bereits heute beobachtbaren Folgen des Klimawandels. Deren Auftretenswahrscheinlichkeit nimmt in der Regel mit steigender Erwärmung sukzessive zu. Neben solchen graduellen Entwicklungen gibt es im globalen Klimasystem aber ganz offensichtlich auch bestimmte Schwellenwerte, sogenannte Kipp-Punkte (engl. tipping points), bei deren Überschreiten sich Veränderungen aufgrund von Selbstverstärkungseffekten dramatisch beschleunigen bzw. sich neue Systemzustände einstellen. Die Folgen sind dann möglicherweise nicht mehr beherrschbar, geschweige denn in für heutige Gesellschaften relevanten Zeiträumen wieder umkehrbar. Während es an der Existenz der Kipp-Punkte in der Regel keinen Zweifel gibt, sind die betreffenden Schwellenwerte, an dem es zum Umkippen kommt, aber nicht bekannt. Klimaforschende sehen die Gefahr, dass bereits bei einer vergleichsweise geringen Erwärmung erste wichtige Kipp-Schalter umgelegt werden, die dann die Erderwärmung weiter vorantreiben, was wiederum weitere Kipp-Punkte aktiviert und dass es so letztlich zu domino-artigen Effekten kommt, durch die die Erde in eine „Heißzeit“ rutscht.Biogeophysikalische Rückkopplungseffekte
Eine solche „Erwärmungskaskade“ beruht auf biogeopysikalischen Rückkopplungseffekten, also auf dem Zusammenwirken biotischer und abiotischer Effekte. Hier sind positive und negative Rückkopplungen zu unterscheiden, wobei positiv in diesem Zusammenhang bedeutet, dass die Veränderung verstärkt wird (= weitere Erwärmung), negativ dagegen, dass ein System in seinem ursprünglichen Zustand gehalten wird (= der Erwärmung entgegenwirkt). Zu den positiven Rückkopplungen zählt die anthropogene Freisetzung von Treibhausgasen, zu den negativen Rückkopplungen die CO<sub>2</sub>-Aufnahme in terrestrischen und marinen Kohlenstoffsenken. Übertrifft der anthropogene Ausstoß von CO<sub>2</sub> das Maß dessen, was von den Senken aufgenommen werden kann, schwächt sich der negative Rückkopplungseffekt ab und die Erwärmung wird „befeuert“.
Welche Rückkopplungseffekte überwiegen und in welche Richtung sich das Erdklimasystem entwickelt, hängt von der Stärke und der Geschwindigkeit der Klimaveränderungen ab. Sind die Klimaveränderungen gering und laufen sie langsam ab, sind Ökosysteme in der Regel in der Lage, mit dem Wandel von Temperatur und Feuchtigkeit Schritt zu halten. Verbreitungsareale und Biomgrenzen verschieben sich graduell, weshalb die Senkenfunktion der Ökosysteme im Großen und Ganzen aufrechterhalten wird. Sind die Klimaveränderungen dagegen stark und vollziehen sie sich rasch, besteht die Gefahr, dass Ökosysteme nicht schnell genug nachrücken können bzw. durch intensivere und häufigere Störungen (Brände, Kalamitäten, Dürren) vernichtet werden und damit ihre Senkenfunktion nicht mehr erfüllen können.
Temperaturabhängigkeit der Kipp-Punkte
Mögliche Kipp-Punkte im Erdklimasystem finden sich innerhalb der Kryosphäre (Eis und Permafrost), der atmosphärischen und marinen Zirkulationsysteme sowie der Biosphäre. Auch wenn die exakten thermischen Schwellenwerte der Kipp-Punkte nicht bekannt sind, gehen Klimaforschende davon aus, dass drei Temperaturbereiche existieren, in denen Kipp-Punkte aktiviert werden. Sie sind in der Karte in den Farben Violett (1 °C bis 2 °C), Orange (2 °C bis 4 °C) und Rot (4 °C bis 8 °C) dargestellt.
Zu den Kipp-Punkten, die bereits bei einer Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur um 1 bis 2 °C – also auch schon bei den im Pariser Klimaschutzabkommen vereinbarten Grenzwerten – eine über lange Zeiträume irreversible Zustandsänderung erfahren können, gehören die sommerliche Schmelze des arktischen Meereises, die Eis- und Permafrostdegradation auf dem tibetischen Hochland und in weiteren Hochgebirgen der Erde, die Schwächung der antarktischen Tiefenwasserbildung, die Schwächung der marinen Kohlenstoffsenke, die Veränderungen atmosphärischer Zirkulationsphänomene wie El Niño oder Sahel-Monsun sowie die Korallenbleiche aufgrund hoher Meeresoberflächentemperaturen. Bei einer Erwärmung um 2 bis 4 °C ist mit einem beschleunigten Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes sowie einem großflächigen Zusammenbruch der borealen Nadelwälder und des Amazonas-Regenwaldes, zwei immens wichtige Kohlenstoffsenken auf der Erde, zu rechnen. Sollte es zu einer Erwärmung von über 4 °C kommen, wäre die Störung der thermohalinen Zirkulation durch das Ausbleiben der arktischen Tiefenwasserbildung, die Freisetzung großer Mengen an Methan aus den auftauenden Permafrostgebieten und Kontinentalschelfen und die Schmelze des Ostantarktischen Eisschildes die Folge. Für einige Entwicklungen wie etwa das Ergrünen der Sahara, den Ozonabbau über den Polen, die Störung des Indischen Monsuns oder das Abschmelzen der Westantarktis liegen bislang keine Angaben zur Temperaturabhängigkeit vor.