Egerkingen - Ortsentwicklung in verkehrsgünstiger Lage - 2023

Schweiz - Landschaftswandel und Erreichbarkeit
978-3-14-100919-4 | Seite 48 | Abb. 1| Massstab 1 : 30000

Überblick

Im Laufe der Jahrzehnte haben viele ländliche Regionen erhebliche Veränderungen durch wirtschaftliche und infrastrukturelle Entwicklungen erfahren. Diese Transformationen, beeinflusst von zentralen Verkehrsknotenpunkten, zeigen eindrücklich, wie sich Landschaften und Wirtschaftsstrukturen neu definieren. Historische und aktuelle Karten veranschaulichen den laufenden Strukturwandel, der stellvertretend für ähnliche Prozesse in der Schweiz steht.
Die beiden Karten zu 1884 und 2023 zeigen den Wandel in der Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur der Gemeinden Egerkingen und Neuendorf. 1884 dominierte in beiden Dörfern die Landwirtschaft, heute findet man überdurchschnittlich viele Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor. Der Strukturwandel als Folge der Lage am wichtigsten Autobahnkreuz der Schweiz (Kreuzung von A1 und A2) und im Zentrum des schweizerischen Mittellandes kann an diesem Kartenbeispiel sehr gut veranschaulicht werden.

Geografische Lage

Zwischen Jura und Aare liegt die Gäu-Ebene. Es handelt sich dabei um eine Schotterebene aus der letzten Vergletscherung mit hervorragenden Böden. Sie wird zwischen Oensingen und Olten von der Dünnern mit nur geringem Gefälle durchflossen. Bis ins 19. Jahrhundert mäandrierte der Fluss durch die Ebene und hatte viele Altarme. Bei Hochwasser trat die Dünnern regelmässig über ihre Ufer und verwandelte grosse Teile der Gäu-Ebene in einen See. Die alten Siedlungen befanden sich deshalb ausnahmslos ausserhalb des Überschwemmungsgebietes. Egerkingen wurde als Bachzeilendorf auf einem Schuttkegel am Jurarand, Neuendorf am Südrand der Dünnernebene in leicht erhöhter Lage gebaut. Das Trassee der Eisenbahn (1876) wurde erhöht auf einem Damm angelegt.

Entwicklung von Egerkingen vor dem Autobahnbau

Das Gebiet um Egerkingen war bereits zur Jungsteinzeit besiedelt. Es konnte hier ein römischer Gutshof ausgemacht werden. Die erste Pfarrkirche geht auf das 7./8. Jahrhundert zurück. Im Mittelalter gehörte Egerkingen den Grafen von Falkenstein und kam 1402 zu Solothurn. Die häufigen Überschwemmungen der Gäu-Ebene durch die Dünnern riefen ab 1848 nach einer Korrektur. Verwirklicht wurde diese aber erst zwischen 1933 und 1943; die Dünnern wurde kanalisiert und begradigt. Die Industrialisierung spielte für die Entwicklung der Dörfer kaum eine Rolle (Korbwaren- und Pinselfabrik), dies obwohl Egerkingen im Jahr 1876 mit dem Eisenbahnbau auch eine direkte Verbindung nach Olten und Solothurn erhielt. Die zu erwartende Entwicklung blieb aus, die Einwohnerzahl ging sogar zurück (1850: 1 011 Einw., 1900 :  983 Einw.). Erst mit der Korrektur der Dünnern stieg die Bevölkerungszahl leicht, konnte doch jetzt auch die Dünnernebene als Bauland genutzt werden. Dies zeigt sich besonders deutlich im Wachstum der Siedlung in Bahnhofsnähe (1920: 1 119 Einw., 1950: 1 440 Einw., 1960: 1 452 Einw.). Nach 1950 stagnierte die Bevölkerungszahl erneut.

Entwicklung als Folge des Autbahnbaus

Zwischen 1960 und 2023 hat sich die Einwohnerzahl Egerkingens mehr als verdoppelt. Sie stieg von 1 452 auf 4 211 Einwohner. Die Zahl der Arbeitsplätze in Egerkingen konnte sich im gleichen Zeitraum mehr als verzehnfachen: 1960 verzeichnete das Dorf 304 Arbeitsplätze, 2021 deren 3621. Die Gemeinde entwickelte sich von einem Weg- zu einem Zupendlerdorf. Diese sprunghafte Entwicklung, die auch die Nachbardörfer (vor allem Neuendorf und Härkingen) erfasste, verdankt die Region ausschliesslich dem Autobahnbau. In die Gäu-Ebene zwischen den Dörfern Egerkingen, Neuendorf und Härkingen kam die grosse Autobahnkreuzung zwischen der West-Ost- und der Nord-Süd-Achse (A1/A2) zu liegen. Die Eröffnung der beiden Autobahnabschnitte erfolgte in den Jahren 1967 (A1) und 1970 (A2). Vom Autobahnkreuz aus können vier grosse Zentren des schweizerischen Mittellandes (Basel, Bern, Zürich und Luzern) in 30 – 50 Minuten erreicht werden. Wegen dieser attraktiven Lage setzte ein beispielloser Wettlauf um Gewerbe- und Industrieland ein. Auf den einst grünen Wiesen (hervorragendes Landwirtschaftsland) im Umfeld des Autobahnknotenpunktes wuchs und wächst ein Warenumschlagplatz riesigen Ausmasses. So platzierten viele Grosskonzerne an dieser verkehrsgünstigen Lage ihre zentralen Verteilzentren und Lagerhäuser. Dazu gehören unter anderem die Migros-Verteilbetriebe mit dem Tiefkühllagerhaus und das Verteilzentrum von H&M in Neuendorf, das Auslieferungszentrum von Mitsubishi und das Paketzentrum der Post in Härkingen, das Buchzentrum in Hägendorf usw. Zum Bereich des Warenumschlags gehört auch der „Gäupark“ in Egerkingen – ein Einkaufszentrum mit über 50 Geschäften und etwa 600 Arbeitsplätzen sowie bis zu 22 000 Besuchern pro Tag, die praktisch alle mit dem Auto anreisen. Ab 2024 haben zudem umfangreiche Umbaumassnahmen, die den „Gäupark“ weiter als attraktiven Anziehungspunkt entwickeln sollen, begonnen. Von weitem sichtbar sind auch die grossen Motel-Betriebe, die sich dank der günstigen Lage im Zentrum des schweizerischen Mittellandes als Konferenz- und Kongressorte anbieten.
Der Autobahnbau hat im solothurnischen Gäu und im bernischen Bipperamt total 240 Hektar Land beansprucht. Eine Studie belegt, dass allein zwischen 1960 und 1974 290 Hektar Land für autobahnabhängige Gewerbe- und Verteilbetriebe verkauft worden sind. Der rasante Landschaftswandel geht allerdings auch heute noch weiter. Ein Beispiel ist der Bau des Briefpostzentrums auf einem Areal von 10 Hektaren in Härkingen mit rund 780 neuen Arbeitsplätzen, das 2008 in Betrieb genommen wurde. Ganz erstaunlich ist der Wandel in der Beschäftigtenstruktur der Dörfer im Gäu. Obschon die Voraussetzungen für die Landwirtschaft in Egerkingen ausgezeichnet sind und 1966 eine Güterzusammenlegung durchgeführt worden war, arbeiteten im Jahr 2021 nur noch 24 Personen, also weniger als 1 Prozent aller Beschäftigten, in der Landwirtschaft. Demgegenüber steht die rasante Zunahme der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor. Waren 1930 bloss etwa 30 Personen in diesem Sektor beschäftigt, stieg diese Zahl bis 2021 auf 3 317 Personen. Es ist wichtig zu erwähnen, dass Arbeitsplätze in den Verteilbetrieben und Einkaufszentren (z. B. Migros, Gäupark usw.) dem Dienstleistungssektor zugeordnet werden. Auffällig ist zudem, dass sich nur wenige traditionelle Industriebetriebe im Autobahnkreuz angesiedelt haben. Neuendorf weist 2021 bloss 15 Arbeitsplätze im 2. Sektor auf, während es in Egerkingen immerhin 290 sind.
Der hohe Anteil der Beschäftigten im dritten Sektor in Neuendorf geht zu einem grossen Teil auf einen einzigen Betrieb zurück: Der Migros-Verteilbetrieb Neuendorf (MVN).

Verkehr

Besorgte Anwohner stellen sich immer öfter die Frage, ob es richtig ist, dass sich das Gäu von der Kornkammer zur Lagerhalle der Schweiz entwickle. Von haushälterischem Umgang mit dem Boden ist während der Erschliessung durch den Autobahnbau und auch in den folgenden Jahrzehnten kaum die Rede gewesen. Die Auswirkungen des Bodenverschleisses, vor allem durch den zunehmenden Verkehr, zeigen sich insbesondere für die kommenden Generationen.
Die Zahlen der Verkehrsbelastungen zeigen, dass der Verkehr auf der Autobahn in der Region des Autobahnkreuzes kontinuierlich zunimmt; ein Ende der Zunahme ist nicht zu erwarten. Bereits ist der Autobahnabschnitt der A1/A2 zwischen den Verzweigungen Härkingen und Wiggertal von vier auf sechs Spuren ausgebaut worden. Gleiches ist für das westlich anschliessende Teilstück der A1 zwischen den Verzweigungen Härkingen und Luterbach für den Zeitraum 2025 bis 2027 vorgesehen. Der Lastwagenanteil auf der Autobahn von Montag bis Freitag liegt bei etwa 20 Prozent des gesamten Verkehrsaufkommens. Zudem steigt das Verkehrsaufkommen auch auf der Kantonsstrasse kontinuierlich an.
Die zahlreichen Verteilbetriebe tragen massgeblich zum Schwerverkehr in der Region bei. Beispielsweise verzeichnet der Migros-Verteilbetrieb in Neuendorf eine signifikante Anzahl an Lastwagenfahrten täglich. Um den Verkehr aus dem Ort zu nehmen, wurde für Egerkingen eine Entlastungsstrasse gebaut. Das Paketzentrum der Post in Härkingen erwirtschaftet ebenfalls eine hohe Verkehrsfrequenz. Zudem wird im neuen Briefpostzentrum mit einem erheblichen zusätzlichen Aufkommen an Lastwagen- und Personenwagenfahrten gerechnet. Es ist wichtig, das Verkehrsproblem prioritär zu lösen, um die Lebensqualität der Bevölkerung in den umliegenden Dörfern zu verbessern und eine weitere Verschlechterung zu verhindern.

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