Überblick
Im Durchschnitt leben in den Staaten der EU rund acht Prozent der Menschen als Ausländer (2020), d. h., sie wurden in einem anderen Land (außerhalb der EU) geboren.
Die zahlenmäßig größten Gruppen an Menschen, die im Ausland geboren wurden, leben heute in den Staaten West- und Mitteleuropas sowie in Südeuropa; hier sind die Anteile durchweg hoch bis sehr hoch. Am geringsten sind die absoluten Zahlen und Anteile in weiten Teilen Ost- und Südosteuropas. Allerdings gibt es hier Ausnahmen wie Estland und Lettland, wo jeweils rund 15 Prozent Russen leben – eine Folge der Zugehörigkeit zur Sowjetunion bis 1991.
In den letzten Jahrzehnten hat der Anteil der Ausländer bzw. der Menschen mit Migrationshintergrund in den meisten Ländern der EU zugenommen. Deutschland (s. 84.1) und viele europäische Staaten sind heute Einwanderungsländer.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine sind Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen, die in der EU Zuflucht suchen.
Historische Phasen der Zuwanderung
Vor allem Frankreich und die Niederlande sind Ziele von Zuwanderung aus ehemaligen Kolonialgebieten. In Frankreich bilden Emigrierte aus Nordafrika (Marokko, Algerien, Tunesien) bis heute die größte Gruppe der Eingewanderten, hinzu kommen viele aus Afrika südlich der Sahara (insgesamt über 4 Mio.).
Ein heute schon historisches Phänomen sind die Gastarbeiterströme der 1960er- und 1970er-Jahre. Auslöser dieser Wanderungen waren der wirtschaftliche Aufschwung in den Industriestaaten der Nachkriegszeit, der damit einhergehende Arbeitskräftebedarf und das Entwicklungsgefälle zu den europäischen Randgebieten. In Ländern wie Deutschland, Österreich und der Schweiz macht sich diese Einwanderungswelle heute am stärksten bemerkbar (hohe Anteile bei Menschen aus europäischen Staaten und der Türkei). Frankreich hat aus dieser Phase größere Bevölkerungsgruppen mit spanischen, portugiesischen und italienischen Wurzeln. Eine weitere Einwanderungswelle ereignete sich zwischen 1988 und 1998, als sich die Zahl der in Europa lebenden Immigrierten um 36 Prozent auf knapp 19 Mio. Menschen erhöhte. In dieser Phase stieg der Anteil der ausländischen Bevölkerung vor allem in solchen Ländern, die – wie etwa Finnland, Dänemark, Spanien, Portugal und Italien – zuvor nur einen relativ geringen Anteil hatten.
In vielen europäischen Ländern leben größere Bevölkerungsgruppen mit Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien. Sie kamen als Gastarbeiter, vor allem aber in den 1990er-Jahren als Bürgerkriegsflüchtlinge.
Migration in Europa heute
Die gegenwärtigen Wanderungsbewegungen in bzw. nach Europa speisen sich aus mehreren Quellen. Innerhalb der Mitgliedsstaaten können EU-Bürger und Bürgerinnen ihren Wohn- und Arbeitsort frei wählen; daraus resultieren Wanderungsbewegungen zwischen den EU-Staaten. Nicht alle dieser Wanderungen sind dauerhaft (z. B. bei Aufnahme eines Studiums). Insbesondere aus Polen, Rumänien und Moldawien pendeln viele junge Menschen zum Arbeiten nach West-, Mittel- und Südeuropa. Eingeleitet wurde die Öffnung der europäischen Binnengrenzen 1985 mit dem Schengener Abkommen, in dem sich die ersten Unterzeichnerstaaten – Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Belgien und Luxemburg – auf einen Verzicht auf Grenzkontrollen im Personenverkehr einigten; dem Schengener Abkommen sind im Laufe der folgenden Jahre die meisten europäischen Staaten beigetreten (s. Karte). Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Öffnung der europäischen Grenzen war die 1992 mit den Maastrichter Verträgen eingeführte EU-Bürgerschaft.
Im Zuge der Globalisierung wählen insbesondere hoch qualifizierte Arbeitskräfte, z. B. Wissenschaftler, Ingenieure, Ärzte, Softwareexperten und Manager, ihren Arbeitsplatz und Lebensort weltweit. Faktoren wie angebotene Arbeitsplätze, Karrierechancen, der mögliche Verdienst und das Wohnumfeld beeinflussen individuelle Entscheidungen, aber auch Global Player sorgen dafür, dass ihre Beschäftigten an verschiedenen Standorten im weltweiten Unternehmensnetz tätig werden, oft (zunächst) zeitlich befristet. In der EU wurde für die Zuwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte aus Drittstaaten eine Blue-Card-Regelung erlassen (in Anlehnung an die Green Card in den USA). Ihre Wirkung ist allerdings umstritten, da nur relativ wenige Anträge gestellt werden.
Eine weitere große Gruppe stellen Asylsuchende dar (2021: 632 300 insgesamt; in Deutschland rund 190 000 insgesamt). Die Asylsuchenden stammen vor allem aus Bürgerkriegs- und Konfliktregionen in Asien und Afrika. So bildeten Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan 2021 die größte bzw. zweitgrößte Gruppe, rund 34 Prozent aller Flüchtlinge.
Die EU-Staaten haben ein einheitliches Regelwerk geschaffen, nach dem Menschen, die zum Beispiel aus politischen oder religiösen Gründen aus ihren Heimatländern fliehen, in der EU Aufnahme finden. Im Rahmen eines Asylverfahrens wird u. a. geprüft, ob anerkannte Fluchtgründe vorliegen.
Infolge des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine ab Februar 2022 flohen Millionen Menschen vor dem Krieg, um in der EU (sowie in Moldau) Zuflucht zu suchen. In der EU gilt für sie seit März 2022 eine Regelung für vorübergehenden Schutz, die den ukrainischen Flüchtlingen EU-weit dieselben Rechte hinsichtlich Aufenthalt, Zugang zu Arbeitsmarkt und Wohnraum, zu medizinischer Versorgung und – für Kinder – zu Bildung, garantieren soll. 4 Millionen ukrainischer Flüchtlinge erhielten bis Januar 2023 diesen vorübergehenden Schutz.
Die EU schottet sich ab
Für die Einreise in die EU ist für Bürger aus Drittstaaten in der Regel ein Visum nötig. Insbesondere Asylsuchende haben aber meist nicht die Möglichkeit, dieses zu beantragen und damit offiziell in die EU zu kommen. Sie wählen daher eine der gefährlichen Hauptfluchtrouten im Mittelmeerraum, auf dem Balkan oder in Osteuropa.
Um den Zustrom von Asylsuchenden nach Europa zu begrenzen, agiert die EU auf verschiedenen Ebenen. Entlang der Grenzen findet eine Land-, See- und Luftüberwachung statt (Frontex). Mit einigen Nachbarstaaten der EU wurden Abkommen getroffen, mit denen die EU das Ziel verfolgt, Flüchtlingsströme bereitsauf deren Territorium zu unterbinden. An einigen Stellen haben die EU-Staaten Grenzbefestigungen errichtet (s. 111.4).
Das Migrationsmodell von Lee
Mit Migrationsmodellen wird versucht, Regelhaftigkeiten im Wanderungsgeschehen zu beschreiben und zu erklären. Das Push-Pull-Paradigma sagt zunächst grundsätzlich aus, dass jede Bevölkerungsmigration von überwiegend negativen Faktoren (Push-Faktoren) innerhalb der Herkunftsregion und überwiegend positiven Faktoren (Pull-Faktoren) innerhalb der Zielregion bestimmt wird.
Der Bevölkerungswissenschaftler Everett S. Lee versuchte, Wanderungsmotive nicht mehr allein makroökonomisch, sondern in Abhängigkeit von individuellen Entscheidungen zu erklären. Die Entscheidung zwischen Wanderung und Nichtwanderung führt er grundsätzlich auf einen Vergleich zwischen den Faktoren am Herkunfts- und am Zielort zurück. Er erweiterte die klassischen Push-Pull-Faktoren um vielfältige strukturelle Merkmale, zum Beispiel die Qualität der sozialen Infrastruktur. Zudem identifizierte er zwei weitere Faktoren, die entscheidenden Einfluss auf das Wanderungsgeschehen nehmen: Zum einen Hindernisse, verstanden als allgemeine Barrieren (z. B. strenge Einwanderungsgesetze, Grenzbefestigungen) und zum anderen individuelle Faktoren wie Geschlecht, Alter, Bildungsstand der Migranten.
Gegenwärtig zeigt sich im Zuge der Globalisierung, dass sich das Wanderungsverhalten grundlegend verändert hat und vielfältiger geworden ist. Die „klassische“ Form der Migration wird zunehmend durch andere Formen wie Transmigration ergänzt. Letztere ist dadurch gekennzeichnet, dass die Migranten ihren Heimatregionen eng verbunden bleiben (s. 297.4). Sie können die Entwicklung ihrer Heimatländer fördern, indem sie ihren Familien regelmäßig Geld überweisen, Migrantennetzwerke bilden, und privatwirtschaftliche Aktivitäten initiieren. In manchen Fällen kehren Migranten in die Heimat zurück und transferieren ihr erworbenes Know-how.