West- und Mitteleuropa - Wirtschaft

West- und Mitteleuropa - Wirtschaft
978-3-14-100919-4 | Seite 94 | Abb. 1| Massstab 1 : 6000000

Überblick

Die Karte zu West- und Mitteleuropa umfasst den Raum zwischen Dänemark im Norden, den Britischen Inseln im Westen, dem Mittelmeer im Süden sowie Polen, Belarus, der Slowakei und Ungarn im Osten. Sie zeigt die Bodennutzung und Anbaugebiete der Landwirtschaft, Standorte der Fischerei, Stromerzeugung, des Bergbaus und der Industrie sowie Dienstleistungszentren und wichtige Verkehrsverbindungen.
Das Standortgefüge von Industrie und Dienstleistungen ist durch folgende Faktoren gekennzeichnet: ein Zentrum-Peripherie-Gefälle, eine Hauptachse, die von Mittelengland über die Beneluxstaaten, die Räume Rhein-Ruhr, Rhein-Main und Rhein-Neckar bis in die Schweiz verläuft, sowie grossstädtische Agglomerationsräume und Ballungsgebiete mit starker Industrie- oder Dienstleistungsorientierung.

Industrie

Der Anteil der Erwerbstätigen im sekundären Sektor und dessen Beitrag zur Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) haben sich durch sektoralen Strukturwandel (Tertiärisierung), Rationalisierung und Standortverlagerungen reduziert. Typisch für West- und Mitteleuropa sind heute Anteile der Industrie zwischen 15 % und 30 % der Beschäftigten und Wirtschaftsleistung (BIP). Auch in den ostmitteleuropäischen Staaten ist die Zahl der Industriebeschäftigten seit Beginn des politisch-ökonomischen Transformationsprozesses in den 1990er-Jahren teils erheblich geschrumpft, liegt aber immer noch etwas über der im Westen. Auch verschieben sich die Wertschöpfungs-, Umsatz- und Beschäftigtenanteile innerhalb der Branchen der Industrie.
Die Standorte der Eisen- und Stahlindustrie haben durch Rationalisierung, Prozess- und Produktinnovationen sowie durch internationale Vernetzung eine Neuausrichtung bewältigt, z. B. in Nordengland (s. Karte 101.4), Wales, Lothringen, dem Ruhrgebiet (s. Karte 89.2 und 89.3) und in Ost-Niedersachsen. Neuere Standorte befinden sich an den Küsten. Dort können importierte Rohstoffe direkt auf dem Seeweg bezogen werden.
Die Textil- und Bekleidungsindustrie ist in ihren angestammten Räumen fast völlig verschwunden. Mit eher handwerklichen Strukturen und in Kleinbetrieben kann sie in einzelnen Grossstädten und Regionen durch hochwertige Kreationen, das Ausnutzen von Marktnischen und Produktinnovationen oder auch mit Niedriglöhnen (östliche Peripherie) noch Marktpositionen behaupten.
Auch forschungs- und entwicklungsintensive Wachstumsindustrien bevorzugen zentral gelegene Regionen mit folgenden Agglomerationsvorteilen: Bildungs- und Forschungslandschaften, ein breit gefächertes Dienstleistungsangebot, qualifizierte Arbeitskräfte und gute Verkehrsanbindung (s. Wissenschaftspark Utrecht, Karte 73.3, und Freihandelszone Shannon, Karte 77.6). Cluster miteinander verflochtener hochspezialisierter Teilbranchen sind ein verbreitetes Organisationsmodell geworden (s. Cambridge, Karte 101.3). Im Zuge der globalen Orientierung der meisten Grossunternehmen und vieler mittelständischer Unternehmen werden die Aufgaben zwischen den einzelnen Standorten geteilt: hier Verwaltung, Forschung, Entwicklung und Marketing, dort Produktion, oft an Standorten in anderen Ländern (z. B. Ostmitteleuropa) oder Kontinenten (z. B. Asien).
Die Luft- und Raumfahrttechnik (s. Produktionsverbund Ariane-6, Karte 77.7), Elektronik, Informations- und Telekommunikationstechnologie (s. Internetknoten Dublin, Karte 101.2) sowie die Biotechnologie als Hightech-Branchen besitzen ihre wichtigsten Standorte in Verdichtungsräumen wie z. B. München und in diversifizierten Industriegebieten mit hochqualifizierter Unternehmer- und Facharbeiterschaft wie z. B. Baden-Württemberg. Standorte multinationaler Konzerne prägen ganze Regionen, z. B. Eindhoven, Basel (s. Karte 45.3 und 45.4) oder Wolfsburg. Trotz hocheffizienter Fertigungstechnologien besitzt der Kraftfahrzeugbau in manchen Staaten eine beachtliche direkte und indirekte Beschäftigungswirkung, etwa in Frankreich, Deutschland, Tschechien und Italien.

Dienstleistungen

In allen Ländern sind der Anteil der Beschäftigten im tertiären Sektor und dessen Beitrag zur Wirtschaftsleistung gestiegen. Typische Werte liegen heute zwischen 70 und 85 Prozent, in Ostmitteleuropa etwas weniger. Innerhalb Europas hat sich ein differenziertes Netz spezialisierter Standorte herausgebildet. Dabei zeigen sich Unterschiede in der Branchenstruktur zwischen den grossen Agglomerationen einerseits und den peripheren Räumen andererseits. London, Rotterdam, Berlin, Zürich und Rom sind Beispiele für bedeutende Dienstleistungsstandorte in den Agglomerationen. Dominiert in Berlin Verwaltung (s. Karte 90.2), so sind Zürich (s. Karte 47.2) und London (s. Karte 102.1 und 103.3) bedeutende Finanzstandorte. Rotterdam als Hafenstandort ist auf Logistik spezialisiert (s. Karte 74.3), Rom auf Städtetourismus (s. Karte 112.1). In einigen der peripheren Regionen dominiert der Erholungstourismus als Leitbranche, z. B. an der spanischen (s. Karte 78.2 und 79.4) und französischen Atlantikküste (s. Karte 105.3) und in den Alpen (s. Karte 50.1, 51.4, 53.3).

Agrarwirtschaft

Böden, Klima und andere naturräumliche Faktoren schaffen Voraussetzungen für die Landwirtschaft. Dies wird etwa deutlich, wenn man die räumliche Übereinstimmung von Regionen mit guter Bodenqualität und Anbauregionen von Weizen bzw. Zuckerrüben betrachtet (Nordfrankreich, Bördelandschaften). Der Anbau von Wein, Obst und Gemüse beruht vielerorts auf einer klimatisch günstigen Naturraumausstattung (s. Huerta von Murcia, Karte 109.2, und Argolis-Ebene, Karte 113.4).
Daneben haben andere Strukturmerkmale sowie der EU-Agrarmarkt grossen Einfluss erlangt. In Belgien und den Niederlanden ist der Gemüseanbau, in Deutschland und Dänemark die Schweinezucht ein Beispiel für den Bedeutungsverlust naturräumlicher Faktoren in der Landwirtschaft und den wachsenden Stellenwert von kapitalstarken, agrarindustriellen Betrieben, die weitgehend unabhängig von den naturräumlichen Bedingungen wirtschaften (s. Treibhausanbau, Karte 109.3).
An die Landwirtschaft knüpft eine bedeutende verarbeitende Lebensmittelindustrie an. Die relativ geringen Beiträge des primären Sektors zur gesamten Wirtschaftsleistung dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Länder wie Frankreich, die Niederlande, Belgien, Deutschland und Dänemark zu den grössten Agrarexporteuren weltweit zählen und bei vielen Produkten eine marktbeherrschende Stellung haben.

Rohstoffe und Bergbau

Die wichtigsten Rohstoffe in West- und Mitteleuropa sind Erdöl und Erdgas aus der Nordsee (s. Karte 96.1). Neben dem Einsatz als Energieträger werden sie als ein wichtiger Rohstoff für die chemische Industrie genutzt. Ein Pipelinenetz verbindet die Fördergebiete mit den Standorten der Chemie und Petrochemie, die bevorzugt an Küstenstandorten bzw. verkehrsgünstig im Binnenland liegen.
Der Steinkohlenbergbau ist an seinen traditionellen Standorten in Westeuropa verschwunden. Aus Gründen des Klimaschutzes soll auch die Kohleverstromung, in Deutschland und Tschechien überwiegend mit dem Rohstoff Braunkohle, in den 2030er-Jahren ihr Ende erreichen (vgl. Karte 88.1).

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