Interview mit Jeremias Thiel
Wie genau haben Sie angefangen sich zu engagieren?
- 20 Jahre Jubiläum der Kinderrechtskonvention – Feier auf dem ZDF-Gelände mit Vertreterorganisationen im Bereich Entwicklungszusammenarbeit und Kinder- und Jugendrechte
- Kinderrechtsstand von UNICEF – Bewerbung zum damals noch existierenden JuniorBotschafter 2014 – in diesem Bereich gab es damals mehr als drei Preise, und den Anerkennungspreis
- Projektidee: Kinderrechtsstunden alle 5. und 6. Klassenstufen; Spendenaufruf für UNICEF im Rahmen des damaligen Tages der offenen Tür – insgesamt also: eigeninitiativ und super niedrigschwellig
- Es folgte: Beteiligung an einer internationalen, von SOS-Kinderdörfer weltweit organisierten Jugendkonferenz in Innsbruck 2015 im Rahmen des europäischen Jahres für Entwicklung, und der Verabschiedung der SDGs
- Es folgte: Beteiligung als Repräsentant UNICEFs und SOS-Kinderdorf Deutschland an der vom Deutschen Institut für Menschenrechte geleiteten Jugendkonsultation, in welchem Jugendzivilvertreterinnen und -vertreter großer NGOs einen Aktionsplan konzipiert, beraten und ausgetragen haben für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Zum Schluss war ich sogar als Vertreter bei den Abschlussverhandlungen im Bundesministerium (BMZ) dabei, in denen wir mit staatlichen Akteuren (GIZ, KfW, BMZ) unsere Punkte ausgehandelt haben, die Teil des Aktionsplans des BMZ werden. Immerhin: Die Institutionalisierung von einem Jugendrat wurde umgesetzt, der das BMZ bei allen Kinderrechtsbelangen beratend in seinen politischen Handlungen berät.
- Beitritt in die SPD im selben Jahr (Oktober 2015) – in dem Kontext; kooperierendes Vorstandsmitglied des Unterbezirksvorstandes der JUSOS (2015–2017)
- Mitglied des UNICEF-JuniorBeirates (höchstes Gremium von UNICEF für junge Engagierte); Aufgaben: Repräsentation von jungen Engagierten in Deutschland, beratende Funktion für UNICEF-Vorstand und Mitarbeitende bei Erstellung für Kampagnen-Ideen; stellvertretende Funktionen bei dritten Veranstaltungen
- aktuell:
- Mitarbeit an Chancenstipendium der Crespo-Stiftung in der Rhein-Main-Region
- öffentlichkeitswirksame Arbeit
Was motiviert Sie, ständig weiter zu machen?
Nach meinem Empfinden nach ist Motivation ein Resultat von Überzeugung – Überzeugung, die nur durch Reformen und Realismus orientiertem Handeln politische Strukturen und Entscheidungsfindungen ändern. Diese Realität treibt mich sehr an, auch in der Zukunft mich weiterhin ideell, aber auch politisch mit den gegebenen Strukturen auseinanderzusetzen und auch weiterhin für jene Menschen Politik zu betreiben, die in Armut groß werden und nicht unbedingt eine starke, politisch und gesellschaftlich verbreitete Lobby haben. Mich motiviert aber natürlich ebenso sehr, dass mein Handeln nach außen hin anerkannt und respektiert wird, und ich so etwas wie eine „führende Stimme“ bin. Immerhin leben noch immer 2,6 Million Kinder und Jugendliche in Deutschland in Armut. 600 000 Menschen in Deutschland sind langzeitarbeitslos. In meiner Heimatstadt lebt nahezu jedes vierte Kind in Armut. Diese Menschen, die häufig in Zahlen beschrieben werden, sind meine Motivation. Die Kinder und Jugendlichen, die aufgrund ihres Alters und ihres sozialen Status vernachlässigt werden.
Was raten Sie Schülerinnen und Schülern, wenn sie sich auch für ein ähnliches Projekt engagieren wollen?
Wichtig ist in erster Linie immer zu verstehen, welcher Typ Mensch man ist. Sofern man gern im institutionellen Rahmen arbeitet und mitgestaltet, ist das Jugendparlament ein toller Rahmen sich zu engagieren, in Vereinen, Parteien, Bündnissen vor Ort in den Kommunen und Städten. Ist man eher aktivistisch unterwegs, so gibt es auch in den Städten Gruppen und Organisationen, die Demonstrationen planen und niedrigschwellige Angebote organisieren – etwa Freizeitveranstaltungen und dergleichen.
Wenn es aber um Engagement im Armutskontext geht, ist es mir wichtig zu sagen, dass Sensibilität und Verständnis für die Armutssituation von (jungen) Menschen von hoher Relevanz sind. Hier gilt der Grundsatz: Wenn ihr euch in dem Kontext engagiert, redet nicht über arme Menschen, sondern gestaltet mit Menschen, die von Armut betroffen sind. Überdenkt potenzielle Denkfehler, sogenannte Bias, die jede und jeder von uns trägt.
Findet Gleichgesinnte, mit denen sich Projekte sogar im schulischen Rahmen umsetzen lassen. Arbeitet mit Lehrerinnen und Lehrern eures Vertrauens zusammen. Fragt nach professionellem Input von Organisationen, die in euren Städten lokal vorfindbar sind, befasst euch mit der Thematik erstmal in einer Tiefe. Bei allem Engagement ist es aber dennoch auch wichtig, auf sich aufzupassen – insbesondere mental. Auch das musste ich in meinen Jahren lernen, und dieser Lernprozess hört sicherlich nicht von heute auf morgen auf.
Was müsste aus Ihrer Sicht passieren, damit wir uns als Gesellschaft noch stärker für den Kampf gegen Armut einsetzen?
Wir müssen Vorurteilen entgegenwirken. Aufklären. Menschen zusammenbringen. Aufhören, gegen arme Menschen zu hetzen. Wir müssen uns gegenseitig mehr unterstützen. Wir müssen eine Erbschaftssteuer einfügen. Gleiches gilt auch für den Sozialstaat – dieser gehört neu definiert. Das bedeutet, wir sollten die aktuelle Hartz-IV Gesetzgebung überdenken und uns davon verabschieden (Sozialverbände fordern ohnehin schon, dass der Mehrbedarf mehr als 200 Euro sind im Vergleich zur Hartz-IV-Satzung). Wir benötigen ein Kindergrundeinkommen, das nicht in irgendeiner Form an ALG-II angerechnet wird. Wir benötigen vor allem Ganztagsschulen, in denen wir junge Menschen, die weniger Ressourcen von zu Hause mitbringen, bedarfsgerecht unterstützen. Wir benötigen mehr Vorbilder. Wir müssen das dreigliedrige Bildungssystem reformieren und endlich anerkennen, dass Entwicklungsschritte vor allem von Ressourcen im frühen Alter abhängen. Wir müssen in den Kindergärten schon früh Benachteiligung erkennen. Wir müssen unser Lehrpersonal, Betreuungspersonal und soziale Berufe auch finanziell anerkennen. Wir müssen unsere Städte so planen, dass wir nicht nebeneinander leben, sondern miteinander. Wir müssen wieder nahbarer sein, anstatt Armut als pures Abstraktum zu sehen. Wir müssen arme Menschen politisch hören, anstatt sie an die Ränder unserer Gesellschaft zu positionieren. Wir müssen Appelle formen. Kommunale Jugendzentren ermöglichen. Ein Talentfonds gehört implementiert, zu dem Lehrerinnen und Lehrer besonderen Zugang haben. Lokale Freizeitinitiativen. Mentorensysteme, die jungen Menschen beratend zur Seite stehen. Wir benötigen aber auch mehr Solidarität in einer immer mehr unsolidarischen Gesellschaft. Wir benötigen progressive Bündnisse in Regierungen. Armut ist hochkomplex, und dementsprechend sind auch alle Punkte, die oben erwähnt sind, miteinander verbunden und in einer Art Symbiose zu sehen.